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UB 405 „Pilze“ und UB 406 Schülerkompakt „Ab in die Pilze“ sind erschienen

Von der Planung bis zum Erscheinen eines Unterricht Biologie Heftes vergehen gut zwei Jahre. Trotzdem wird es in den letzten Monaten meistens etwas hektisch und nicht immer kann der Erscheinungstermin ganz pünktlich eingehalten werden. Nun sind die beiden Hefte zu den Pilzen – für Juni und Juli 2015 vorgesehen- tatsächlich Ende Juni erschienen.

Die beiden Hefte ergänzen sich. Während wir im regulären UB-Heft 405 versucht haben, möglichst viele Facetten der Pilzkunde einzubeziehen, stehen im Kompakt (UB 406) Pilze im Mittelpunkt, die man in Wald und Wiese finden kann. Dabei geht es natürlich nicht nur ums Essen, sondern auch um Hexenringe  und Sporenbilder, Pilz-Baum-Partnerschaften, Pilzdüfte und Plzfarben und Pilze als Werkstoffe und Bastelmaterial.

Die unten stehenden Inhaltsverzeichnisse sollen Ihr Interesse wecken.

Inhalt UB 405

Inhalt UB 405

Inhalt UB 406

Inhalt UB 406

Seekühe – von Manatis, Dugongs und der Stellerschen Seekuh

vgl. auch UB 246, 2019

So könnte Georg Wilhelm Steller 1742 die Riesenseekühe vor der Beringinsel gesehen haben

So könnte Georg Wilhelm Steller 1742 die Riesenseekühe vor der Beringinsel gesehen haben (Grafik W. Probst)

„Ah! Es schwimmt! Es taucht unter! rief Ned-Land. Tausend Teufel! Was mag dies für ein Thier sein? Es hat nicht den zweispaltigen Schwanz der Wallfische oder Pottfische, und seine Flossen sehen aus wie verstümmelte Gliedmaßen.
– Aber dann … sprach ich.
– Richtig, fuhr der Kanadier fort, es liegt auf dem Rücken und streckt seine Brüste empor!
– Eine Sirene, rief Conseil, eine echte Sirene, nehmen Sie’s nicht übel mein Herr.
Dies Wort brachte mich auf den rechten Weg, und ich sah, daß dies Thier zu den Seegeschöpfen gehörte, woraus die Fabel Sirenen und Fischweibchen gemacht hat.
-Nein, sagte ich zu Conseil, eine Sirene ist’s nicht, aber ein merkwürdiges Geschöpf, von dem es kaum noch einige Exemplare im Roten Meer giebt. Es ist ein Dugong.
– Ordnung der Sirenen, Gruppe der fischförmigen, Unterclasse der Monodelphine, Classe der Säugetiere, Abtheilung der Wirbelthiere,“ erwiderte Conseil.“

In Jules Vernes legendären Roman „20 000 Meilen unter dem Meer“ treffen die Seefahrer des Nautilus im Roten Meer auf ein Seetier von über 7 m Länge. Es wird zwar als „Dugong“ bezeichnet, was von der Verbreitung her korrekt wäre, aber in die Beschreibung hat Jules Verne wohl auch Berichte über die wesentlich größere Riesen-Seekuh einfließen lassen, die vermutlich schon ausgestorben war, als er seinen Roman schrieb. Auch Kapitän Nemo und seine Gäste, Pofessor Arronax, der Ich-Erzähler, sein Diener Conseil und der draufgängerische Harpunier  Ned-Land,  verschonen das große Seetier nicht, obwohl von wissenschaftlicher Seite Bedenken anmeldet werden:

„– Herr Kapitän, sagte darauf Conseil im Ernst, wenn es vielleicht das letzte seiner Race wäre, würde es dann nicht besser sein es zu schonen, im Interesse der Wissenschaft?
– Vielleicht, entgegnete der Canadier; aber im Interesse der Küche ist‘s besser, es zu erlegen.
– Gehen Sie nur an’s Werk, Meister Land“, erwiderte der Kapitän Nemo.“

Stellers Seekuh

Ich hatte eine virtuelle Begegnung mit der fantastischen Riesen-Sirene (Ordnung Sirenia = Seekühe, s.u.), als ich versuchte, Adelbert von Chamissos Reise um die Erde nachzureisen. Dies war der Anlass, mich etwas genauer über diesen Meeressäuger und seine Verwandten zu informieren.
Chamisso fuhr auf der russischen Brigg Rurik unter Kapitän Otto von Kotzebue von Kamtschatka in die Beringstraße und dabei passierte das Expeditionsschiff am 20. Juli 1816 die Beringinsel, wie die Beringstraße, die Sibirien von Alaska trennt, nach dem dänischen Kapitän und Expeditionsleiter Vitus Bering benannt (vgl. Der Palme luft’ge Krone – mit Chamisso auf Weltreise). Bering leitete im 18. Jahrhundert im Auftrag der russischen Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg zwei große Expeditionen zur Erforschung Ostsibiriens und der Verbindung zwischen Sibirien und Alaska. Bei der zweiten Exedition kam er als Schiffbrüchiger auf der Beringinsel ums Leben. Vorher hatte er von Kamtschatkas Awatscha-Bucht kommend auf einem Kurs südlich der Aleutenkette die Insel Kayak vor der westamerikanischen Küste erreicht. Auf der Rückreise geriet das Expeditionsschiff immer wieder in gefährliche Weststürme und kenterte schließlich vor der später so benannten Beringinsel. Die Beringinsel, ihre Nachbarinsel Medni und einige weitere kleinere Inseln gehören zu den Kommandeurinseln, die zwischen den Aleuten und Kamtschatka gelegen das nördliche Beringmeer vom übrigen Nordpazifik abtrennen. Geologisch sind sie den Aleuten zuzuordnen. Bering erlag auf dieser Insel im Dezember 1741 einer schweren Krankheit.
Chamisso hatte bei seiner Passage einen Blick auf das westliche Ende der Insel, das sich – wie er in seinem Reisetagebuch schreibt –
„…mit sanften Hügeln und ruhigen Linien zum Meere senkt. Sie erschien uns im schönen Grün der Alpentriften; nur stellenweise lag Schnee“.

Alle Kommandeurinseln und das umgebende Meer wurden am 23. April 1993 von der Russischen Föderation zum Naturreservat erklärt. http://de.sputniknews.com/german.ruvr.ru/photoalbum/61068875/?slide-1

Wenn selbst im Juli auf dieser Insel noch Schnee lag, kann man sich einen Begriff von dem Klima machen, dem die Schiffbrüchigen der Bering-Expedition, die es Anfang November auf die Insel verschlug, ausgesetzt waren.
Unter diesen Schiffbrüchigen war auch der deutsche Arzt und Naturwissenschaftler Georg Wilhelm Steller. Nicht zuletzt seinem Mut und Geschick war es zu verdanken, dass immerhin 46 der ursprünglich 77 Schiffbrüchigen die Rückkehr nach Kamtschatka gelang. Trotz des ständigen Kampfes ums Überleben bemühte sich Steller um eine naturkundliche Erforschung der Insel. Er beschrieb Seeotter, Seelöwen und Seebären und bemerkte schon kurz nach der Ankunft auf der Insel eigenartige Wassertiere von erstaunlichen Ausmaßen, von denen man meistens nur einen großen dunkelbraunen Rücken über die Wasseroberfläche ragen sah. Erst nachdem die Strapazen des Winters einigermaßen überstanden waren, fand Steller Zeit, sich etwas intensiver mit diesen seltsamen Tieren zu beschäftigen.
Steller kannte die Beschreibung Dampiers von dem karibischen Manati und er konnte die großen Wassertiere sofort ganz korrekt dieser Säugetiergruppe der Seekühe zuordnen.
„Ich würde auf eine ausführliche Beschreibung der Seekuh verzichtet haben, wenn nicht über diese in alten Zeiten allzu Ungereimtes geschrieben worden wäre. Damals betrachteten die Naturforscher das, was sie mit eigenen Augen sehen konnten, nur sehr oberflächlich.
Ich hingegen bin bemüht gewesen, zunächst eine klare Kunde von der äußeren Gestalt des Tieres und den Bau seiner inneren Teile zu geben. Dem habe ich dann Erläuterungen zum Nutzen von Teilen des Tieres, als Speise, als Arznei und zu anderen Dingen, sowie zum Verhalten des Tieres hinzugefügt.“
So schreibt Steller später in der von ihm verfassten „Topographischen und physikalischen Beschreibung der Beringinsel“ (Sankt Petersburg und Leipzig 1781). Er war der einzige Naturwissenschaftler, der diese riesige nordische Seekuh lebend gesehen und ihre äußere und innere Anatomie sowie ihr Verhalten untersucht hat. Am 12. Juli 1742 hat Steller eine weibliche Seekuh genau vermessen und seziert. Die Körperlänge gibt er mit 296 Zoll an, der im Vergleich mit dem massigen Körper kleine kurze Kopf hat über den Augen einen Umfang von 48 Zoll, der Nacken schon 82 Zoll. Den größten Leibesumfang vemaß Steller mit 244 Zoll. Die Länge des gesamten Verdauungstraktes betrug 5168 Zoll, das Herz maß 22 auf 25 Zoll, die Nieren 32 auf 18 Zoll (ein Zoll entspricht 2,54 cm). Besonders bemerkenswert ist die dicke Haut der Tiere, die Steller an die rissige Rinde einer alten Eiche erinnerte. Oft beobachtete er Möwen und andere Seevögel, die auf den inselartig aus dem Wasser ragenden borkigen Rücken der Seekühe nach Maden hacken. Die dicke haarlose Haut erinnert also doch ein bisschen an die landlebenden Dickhäuter, die Elefanten, die ja ihre nächsten Verwandten sind. Lediglich an der Schnauze hat das Tier dicke, an Federkiele erinnernde Borsten, auch die Unterseite der zehenlosen Vorderfüße ist dicht mit kurzen Borsten besetzt. Mit den Vorderbeinen schwimmt die Seekuh vorwärts und schlägt die Algen von den Steinen am Meeresgrund ab.
„Unter diesen Vorderfüßen finden sich die Brüste, mit schwarzen, runzligen zwei Zoll langen Warzen, in deren äußerstes Ende sich unzählige Milchgänge öffnen. Wenn man die Warzen stark streift, so geben diese Milchgänge eine große Menge Milch von sich, die an Süßigkeit und Fettigkeit die Milch der Landtiere übertrifft, sich aber sonst von dieser nicht unterscheidet.“

So könnte die Stellersche Seekuh ausgesehen haben

So könnte die Stellersche Seekuh ausgesehen haben (Aquarell W. Probst). Eine sehr detaillierte Rekonstruktion hat Jan Hughes angefertigt.

Steller beobachtete, dass sich die Seekühe meistens im flachen Wasser aufhielten. Sie liebten sandige Plätze, gerne auch an den Mündungen von Flüssen. Die halbwüchsigen und jungen Tiere trieben sie meist vor sich her und schlossen Sie zwischen Erwachsene ein, um sie vor Angriffen insbesondere von Belugas zu schützen. Die erwachsenen Tiere hatten keine natürlichen Feinde. Aber bei stürmischem Wetter konnten sie an Felsen geschlagen werden und dabei zu Tode kommen. Im Winter , wenn sie nicht genug Algennahrung finden konnten und dadurch stark geschwächt waren, kam es nicht selten vor, das Tiere von dem am Ufer schwimmenden Eise erstickt wurden.
Den ganzen Tag über fraßen sie, fast ununterbrochen mit dem Kopf unter Wasser. Alle 4-5 min hoben Sie die Nase aus dem Wasser und atmeten aus und ein, wobei sie ein Geräusch von sich gaben, das dem Schnauben eines Pferdes ähnelte. Bei Weidegang bewegten sie einen Fuß nach dem anderen langsam vorwärts und ließen sich kaum stören. Es kümmerte sie nicht, wenn man mitten zwischen ihnen herum schwamm oder mit einem Kahn durch die weidende Herde steuerte. Wie Steller später erfuhr, wurden die Riesenseekühe von den Kamtschadalen auch „Krautfresser“ genannt.
Steller beschrieb, dass sie sich – meist im Frühjahr – wie Menschen begatteten, also Bauch an Bauchseite das Weibchen auf dem Rücken liegend, wobei sie sich

Porträt der Stellerschen Seekuh (Aquarell W. Probst)

Porträt der Stellerschen Seekuh (Aquarell W. Probst)

mit ihren kurzen Vorderbeinen umarmten. Die Tragzeit betrug über ein Jahr und Steller konnte immer nur ein Junges beobachten. Meistens bildeten sie Familienverbände aus einem männlichen und einem weiblichen Tier und mehreren Jungtieren. Die Bindung zwischen den Familienmitgliedern schilderte Steller als sehr eng.

Warum sind diese größten marinen Pflanzenfresser ausgestorben?
Die unbewohnten Kommandeursinseln waren im 18. Jahrhundert das letzte Rückzugsgebiet der Riesen-Seekühe. Aber noch bis zum Ende der letzten Kaltzeit waren sie im Nordpazifik viel weiter verbreitet, von der Baja Californica bis nach Japan. Da sie praktisch keine natürlichen Feinde hatten, ist die Annahme nicht unwahrscheinlich, dass sie durch die ersten menschlichen Einwanderer am Ende der letzten Kaltzeit bejagt und schließlich ausgerottet wurden. Die großen Tiere hatten einen gewaltigen Stoffumsatz und sie ernährten sich hauptsächlich von den Riesentangen, die vor allem für die pazifischen Auftriebsgebiete entlang der amerikanischen Westküste und für die arktischen Zonen charakteristisch sind. Auch wenn die Bejagung durch steinzeitliche Jäger nicht sehr intensiv war, so könnte über die Jahrhunderte bei der geringen Reproduktionsrate der Seekühe (ein Junges höchstens alle 2-3 Jahre) trotzdem eine starke Reduktion der Bestände die Folge gewesen sein. Außerdem sind auch andere indirekte Effekte möglich. So weiß man heute, dass die Seeotter für den Bestand der Riesentiere von großer Bedeutung sind, da sie sich vorwiegend von Seeigeln ernähren, die wiederum den Nachwuchs der Tange abgrasen. Gibt es weniger Seeotter, gibt es mehr Seeigel und damit weniger Tangwälder. So könnte sich auch die Dezimierung der Seeotter negativ auf die Seekuhbestände ausgewirkt haben. Aufgrund neuen molekulargenetischen Untersuchungen an fossilem Riesenseekuh-Material kommen Sharko et al. (2021) zu der Auffassung dass die Populationen der Riesenseekühe am Ende der Kaltzeiten vor allem aufgrund des Meeresspiegelanstiegs schon stark dezimiert waren, bevor paläolithische Jäger ihre Bestände weiter dezimierten.

Die Gestrandeten der Bering-Expedition ernährten sich zunächst von Seeottern, die es hier in großen Mengen gab und die keinerlei Scheu zeigten und sich leicht erschlagen ließen. Nachdem sich die Leute etwas erholt hatten, wagten sie sich an die Jagd auf die Seekühe. Das Abschlachten war zwar nicht schwierig, aber die tonnenschweren Leiber an Land zu bringen, benötigte die Kraft von 30 gesunden Männern. Fleisch und Fett der Seekühe schmeckten den Matrosen hervorragend. Das Fleisch soll angeblich wie Kalbfleisch geschmeckt haben, das ausgelassene Fett erinnerte an Olivenöl.
Die Berichte der nach Kamtschatka zurückgekehrten Matrosen über die großen Mengen an Seeottern, die sie auf der Beringinsel angetroffen hatten, führten dazu, dass Pelzjäger sich aufmachten, um die Tiere mit den wertvollen Fellen zu jagen. Dabei nutzten sie die Seekühe vor allem zu Nahrungszwecken, später wurden sie aber auch in Massen sinnlos abgeschlachtet, so dass sie bereits 27 Jahre nach ihrer Entdeckung ausgerottet waren. Zwar gibt es immer einmal wieder Berichte darüber, dass eine Riesenseekuh gesichtet worden wäre, bisher konnte dies aber in keinem Fall bestätigt werden.
Der ehemals bekannte sowjetrussische Tierbuchautor Igor Akimuschkin schrieb dazu 1969 in seinem 1972 ins Deutsche übersetzten Buch „Vom Aussterben bedroht? Tiertragödien, vom Menschen ausgelöst“:
„Noch vor zweihundert Jahren lebten in der Nähe der Kommandeurinseln so viele Seekühe, dass man mit ihrem Fleisch, wie der sowjetische Geograph L. S. Berg schreibt, „die gesamte Bevölkerung von Ost Kamtschatka hätte ernähren können.“ Das Fleisch war vorzüglich, nicht wie Walfleisch, das selbst Hunde nicht mögen. Das von jungen Seekühen schmeckte „wie Kalbfleisch“, und das der ausgewachsenen Tiere „unterschied sich nicht von Rindfleisch“. Unter der Haut hatte die Stellersche Seekuh eine „vier Daumen dicke“ Schicht weißes Fett. Wurde es ausgelassen, so hatte es „das Aussehen und den Geschmack von Olivenöl, und Stellers Gefährten tranken es tassenweise“. Was Wunder, dass die Skorbutkranken nach dem Genuss von Fleisch und Fett dieser Tiere eine wundertätige Wirkung verspürten. Auch die Milch war etwa wie die von Kühen, nur süßer und fetthaltiger. Und nun stelle man sich einmal jene märchenhaften Zeiten vor (die nicht mehr fern hätten zu sein brauchen): Die Kühe der „Meerfarmen“ wiegen über zweihundert Pud (1 Pud = 16,38 kg), sie geben hundert Liter Milch am Tag, sie brauchen weder Futter, noch müssen sie gehütet werden. Sie entfernen sich nicht weit, denn Seekohl (gemeint sind die großen Braunalgen-Tange) wächst nur am Ufer. Dort finden die Tiere Futter und Unterkunft, und zum Melken kommen Taucher mit elektrischen Melkmaschinen… Diese Träume sind heute irreal. Die Stellerschen Seekühe gibt es nicht mehr, und der Mensch kann sie nie mehr auferstehen lassen …“

Vor allem diese Entdeckung aber auch weitere nach ihm benannte Tierarten führten dazu, dass Stellers Name bis heute – auch außerhalb der zoologischen Fachwissenschaften – nicht vergessen wurde. Denn er war der einzige Wissenschaftler, der die Riesenseekuh lebend zu Gesicht bekommen hatte. Aber auch Georg Steller überlebte die Expedition nicht. Nachdem er noch 3 Jahre auf Kamtschatka geforscht hatte, machte er sich 1744 auf dem Landwege auf die Rückreise nach Europa. Auf dieser abenteuerlichen Reise durch Sibirien erkrankte er schwer und starb schließlich mit nur 37 Jahren am 12. November 1746 in der westsibirischen Stadt Tjumen. Heute erinnert eine Gedenktafel in seiner fränkischen Heimatstadt Bad Windsheim an den vielseitigen und weit gereisten Naturforscher.

Andere Seekühe

Karibik-Manati (oben) und Dugong (unten) aus Lambert's Tier-Atlas, 1913

Karibik-Manati (oben) und Dugong (unten) aus Lambert’s Tier-Atlas, 1913

Heute leben auf der ganzen Erde noch vier verschiedene Seekuh- Arten. Alle sind ziemlich selten und in ihrem Bestand gefährdet. Drei davon, die Manatis, gehören zur Familie der Rundschwanz-Seekühe, eine, der Dugong – wie die ausgestorbene Riesenseekuh – zur Familie der Gabelschwanzseekühe.
Der Afrikanische Manati (Trichechus senegalensis) lebt im tropischen Westafrika, vorwiegend in Mangroven und in Mündungsgebieten der Flüsse, aber auch in großen Flüssen des Landesinneren, z. B. im Niger. Dem Karibik-Manati (Trichechus manatus) bin ich in Florida begegnet. Zwar nicht direkt in freier Wildbahn, aber indirekt. Die Tiere kommen in den Kanälen vor, welche das Sumpfgebiet der Everglades durchziehen. Im Tierpark Berlin und im Tiergarten Nürnberg werden Karibik-Seekühe gehalten.

Air-Boat in den Everglades, Florida, 1983

Air-Boat in den Everglades, Florida, 1983 (Foto W. Probst)

Ein Manati soll an einem Tag fast ein viertel seines Körpergewichts an Wasserpflanzen fressen. Diese Tiere haben zwar keine natürlichen Feinde, ihre Bestände sind aber durch menschliche Aktivitäten stark geschrumpft und sehr gefährdet. In Florida waren und sind es vor allem Propellerboote („Air Boats“), die ihnen mit ihren großen Propellern den Rücken aufschlitzen.
Auch im Amazonasgebiet kommt ein rein an süßwassergebundener Manati vor. Trichechus inunguis ist deutlich kleiner und zierlicher als die anderen Arten. Die Vorderbeine sind zu Flossen umgeformt, Nägel fehlen, dafür sind sie deutlich länger als diese Extremitäten bei seinen Verwandten. Diese Tiere waren in früheren Jahrhunderten im Amazonasgebiet sehr häufig und vor allem in der Trockenzeit bildeten sie große Herden in tieferen Gewässern. Ab dem 17. Jahrhundert

Amazonas-Seekuh (Trichechus inunguis)

Amazonas-Seekuh (Trichechus inunguis) im Zoo von San Diego, 1983 (Foto W. Probst)

wurden sie von weißen Siedlern in großer Zahl geschossen. Da man zu Beginn des 20. Jahrhunderts feststellte dass sich ihre Haut sehr gut zur Lederherstellung eignet, wurden einige Zeit pro Jahr über 10.000 Tiere getötet. In den 1960 er Jahren waren die Bestände so klein geworden, dass sich eine Jagd nicht mehr richtig lohnte. Heute sind sie zwar unter Schutz gestellt, aber die Zerstörung der Regenwälder, reguläre Fischerei und vor allem die Einleitung giftiger Quecksilberverbindungen durch illegale Goldgräber bedrohen die Bestände immer weiter (Wikipedia, http://www.iucnredlist.org/details/22102/0 ).

Die weiteste Verbreitung hat der Dugong (Dugong dugong), die einzige bis heute noch existierende Art der Gabelschwanz-Seekühe.Diese Gabelschwanz-Seekühe sind vom Persisch-Arabischen Golf bis nach Australien und die Südsee verbreitet, aber an vielen Stellen stark gefährdet oder schon ausgestorben, zum Beispiel auf den Malediven, Maskarenen und Lakkadiven. Trotzdem schätzt man den Gesamtgbestand noch auf 50 bis 80 000 Tiere. Die Bestände wurden durch Bejagung stark dezimiert. Derzeit sind vermutlich Schleppnetze die größte Bedrohung, weil sich die Tiere in den Netzen verfangen und dann nicht mehr auftauchen können und ertrinken. Auch in Hainetzen, die zum Schutz von Badegästen vor Stränden angebracht werden, verfangen sich immer wieder Dugongs. Aber auch der durch Schleppnetzfischerei und Abwassereinleitung starke Rückgang der Seegraswiesen, der wichtigsten Weideflächen der Meeresherbivoren, führte zu einem Schrumpfen der Bestände. Schließlich sind Dugongs auch recht empfindlich gegen Chemikalien. So hat man bei tot angetriebenen Dugongs an der Küste von Queensland häufig erhöhte DDT-Werte nachgewiesen.

Auch diesem Tier bin ich selbst nie begegnet, aber auf Magnetic Island bei Townsville an der australischen Ostküste habe ich Plakate gesehen, die auf seinen Schutz und seine Gefährdung hingewiesen haben.

Evolution der Sirenia

Die ersten Wirbeltiere, so nimmt man heute an, gingen vor 365 Mill. J. zum Landleben über. Ihre nächsten heute lebenden Verwandten gehören zu den Amphibien. Reptilien, Vögel und Säuger haben sich später entwickelt, wobei die Vögel eigentlich eine Untergruppe der Reptilien sind.

Immer wieder hat die Evolution der Landtiere den Weg zurück ins Wasser gefunden. Grottenolm und Axolotl sind Wasseramphibien, die das wassergebundene Larvenstadium zur Dauerform gemacht haben. Fischsaurier waren perfekt ans Wasserleben angepasste Reptilien des Erdmittelalters, heute sind Seeschildkröten bis auf die Eiablage immer im Wasser. Die Pinguine sind die Vögel, die den Weg von der Luft zurück ins Wasser am weitesten gegangen sind. Bei den Säugern sind die Wale und Delfine (Cetacea) reine Wassertiere geworden, die allerdings zum Atmen noch atmosphärische Luft für ihre Lungen benötigen. Man kennt knapp 90 heute lebende Arten. Von Robben mit Seelöwen, Seeelefanten und Walrossen kennt man heute ca. 35 Arten. Diese zu den Carnivoren gerechnetern „Flossenfüßer“ (Pinnipedia) sind zwar auch sehr gut ans Wasserleben angepasst, halten sich aber doch regelmäßig, z. B. zur Fortpflanzung, an Land auf. Auch Otter aus der Familie der Marderartigen sind sehr elegante Schwimmer, besonders die Seeotter. Aber wie die Robben kommen sie regelmäßig an Land.

Eine Zwischenstellung nehmen die Seekühe oder Sirenen ein. Sie haben wie die Wale einen waagerecht ausgerichteten Fischschwanz, der gegabelt oder abgerundet sein kann, und zwei Vorder Extremitäten, die zum Rudern aber auch zum Abstürzen dienen. Die Sirenen sind die einzigen Wassersäuger, die sich rein pflanzlich ernähren. Der Name „Wasserkuh“ ist also durchaus berechtigt.

Verwandtschaftsbeziehungen der Sirenia innerhalb der Afrotheria (ohne nur fossil bekannte Gruppen)

Verwandtschaftsbeziehungen der Sirenia innerhalb der Afrotheria (ohne nur fossil bekannte Gruppen; Wikipedia, neu kombiniert)

Die Stammesgeschichte der Sirenen reicht mehr als 50 Millionen Jahre zurück. Ihre nächsten heute lebenden Verwandten sind die Elefanten und die Klippschliefer. Man fasst die drei Ordnungen heute zu den Paenungulata („Fasthuftiere“) zusammen. Obwohl diese Tiere heute so unterschiedlich aussehen und nur wenige gemeinsame morphologische Merkmale – wie zum Beispiel das Vorhandensein von 19 oder mehr Brustwirbeln – auf eine gemeinsame Abstammung hindeuten, ist diese doch durch genetische Untersuchungen belegt. Die eigentlichen Huftiere (Euungulata) gehören nicht in ihre nähere Verwandtschaft, aber mit Tenreks, Erdferkel, Goldmullen und  Elefantenrüsslern gehören sie zur großen Verwandtschaftsgruppe der Afrotheria.

Rechnet man fossile und rezente Arten zusammen, so kennt man heute 35 Seekuharten. Die kleinsten wogen etwa 150 kg, die größte, Stellers Riesenseekuh, über 10.000 kg. Im Eozän und Oligozän (bis vor etwa 20 Mill. J.) lebten  verschiedene Seekuharten in den Schelfgebieten der warmen Meere, die weite Regionen Mitteleuropas bedeckten. Die Mainzer Seekuh (Halitherium schinzii), die ihren Namen nach dem Fund im Mainzer Becken hat, zeigte schon alle Merkmale der heutigen Seekühe. Skelettreste sind in Deutschland nicht selten zu finden. Ein vollständiges Skelett wird zum Beispiel im Stuttgarter Museum am Löwentor gezeigt. In einer neuen, gründlichen Untersuchung konnten die Berliner Wirbeltier-Paläontologen Manja Voß und Oliver Hampe nachweisen, dass sich diese Reste auf insgesamt zwei Arten zurückführen lassen. Da der Name Halitherium schinzii schon 1838 aufgrund nur eines einzigen Zahnfundes gegeben wurde, der nicht eindeutig zugeordnet werden konnte, haben die beiden Forscher eine neue Seekuh-Gattung Kaupitherium mit den zwei Arten K. gruelli und K. bronni aufgestellt (Voss, M. & Hampe, O. 2017).

Der wissenschaftliche Name der Ordnung der Seekühe ist „Sirenia“ und das kommt daher, dass sie von Seeleuten auch als „Sirenen“ bezeichnet wurden. In der griechischen Mythologie bezeichnete dieser Name weibliche Fabelwesen mit betörenden Stimmen, deren Gesang kein Mann widerstehen konnte. Sie lebten auf einer Mittelmeerinsel und wenn sie Seefahrer zu hören bekamen, waren sie verloren. Odysseus geriet auf seiner Irrfahrt in die Nähe dieser Insel. Er wollte den Gesang hören, aber der tödlichen Verlockung trotzdem nicht folgen. Deshalb ließ er auf Rat der Zauberin Kirke seinen Reisegefährten die Ohren mit geschmolzenem Wachs verschließen und sich selbst an den Mast des Schiffes binden. So konnte er den Gesang der Sirenen zwar vernehmen, aber als er hingerissen zur Insel wollte, banden ihn die Gefährten – wie vorher abgemacht – nur noch fester, bis dass Schiff wieder außer Hörweite der Sirenenklänge war und der Zauber seine Wirkung verlor. Teilweise stellte man sich Sirenen als Mischwesen zwischen Vogel und Mensch, teilweise aber auch als Fischmenschen, Nixen oder Meerjungfrauen, vor. Nun haben Manati und Dugong keine besonders betörenden Stimmen. Auch ihre Physiognomie und ihre Körpergestalt zeigen eigentlich keine Ähnlichkeit mit verführerischen Frauengestalten – bis auf ein Merkmal: Seekühe haben zwei hoch am Körper sitzende Brustwarzen, ihre Brüste sind – wenn sie ein Junges säugen – deutlich angeschwollen und erinnern dann durchaus an eine wohlgeformte weibliche Brust.

Grußkarte zum Jahreswechsel aus Florida

Grußkarte zum Jahreswechsel aus Florida

Quellen

Arnold, A.: See cows, shamans and scurvy: Alaskas first Naturalist: Georg Wilhelm Steller. Douglas & McIntyre, Madeira Park (Canada) 2008

Berta, A. /Sumich, J. L.: Marine Mammals: Evolutionary Biology. Academic Press, New York, 1999.

Egerton, F. N.: A History of the Ecological Sciences, Part 27: Naturalists Explore Russia and the North Pacific During the 1700s. Bulletin of the Ecological Society of America, Jan. 2008. http://esapubs.org/bulletin/current/history_list/history27.pdf

Fischer. M. S.: Sirenia, Seekühe. In: Westheide, W./Rieger, R.: Spezielle Zoologie. Teil 2. Wirbel- oder Schädeltiere. Spektrum Akademischer Verlag, München 2004

Lambert, K.: Bilder-Atlas des Tierreichs. J. F. Schreiber, Eßlingen/München 1913

Marsh, H./Thomas, J. O./Reynolds, J. E. III: Ecology and Conservation of the Sirenia. Dugongs and Manatees. Cambridge Univ.Press, Cambridge u. a. 2011

Rothauscher, H.: Die Stellersche Seekuh. Books on Demand GmbH, Norderstedt 2008

Posselt, D. (Hrsgin.): Die Große Nordische Expedition 1733-1743. Aus Berichten der Forschungsreisenden Johann Georg Gmelin und Georg Wilhelm Steller, C. H. Beck, München 1990

Probst, W.: Der Palme luft’ge Krone – mit Chamisso auf Weltreise. Wagnerverlag, Gelnhausen 2014

Ripple, J./Perrine, D.: Manatees and Dugongs of the World. Voyageur Press, Stillwater, MN,1999

Ruf, J. (Hrsg.): Nachts flogen die Gomuli. Gedichte über Steller, Bering und Kamtschatka. Books on Demand, Norderstedt 2019

Sharko, F. S. et al. (2021): Stellers sea cow genome suggests this speciesbegan going extinct before the arrival of Paleolithic humans. NATURE COMMUNICATIONS | https://doi.org/10.1038/s41467-021-22567-5

Stejneger, L.: How the great northern sea-cow (Rytina) became exterminated. American Naturalist 21:1047–1054, 1887

Steller, G. W.: Beschreibung von dem Lande Kamtschatka. Neudruck der Ausgabe von 1774. Herausgegeben von E. Kasten und M. Dürr. Holos-Verlag, Bonn 1996
http://www.siberian-studies.org/publications/PDF/Steller.pdf

Steller, G. W.: Von Sibirien nach Amerika. Die Entdeckung Alaskas mit Kapitän Bering 1741-1742. Herausgegeben von V. Matthies Tienemann, Edition Erdmann, Stuttgart/Wien 1986

Turvey, S. T., & Risley, C. L. : Modelling the extinction of Steller’s sea cow. Biology letters, 2(1), 94-97, 2005

Verne, J.: 20000 Meilen unter den Meeren. Artemis & Winkler, Düsseldorf 2007

Voss, M. , Hampe, O. : Evidence for two sympatric sirenian species (Mammalia, Tethytheria) in the early Oligocene of Central Europe, Journal of Paleontology 2017 http://dx.doi.org/10.1017/jpa.2016.147

Waxell, S.: The American Expedition. Hodge and Company, London 1952

Wotte, H.: In blauer Ferne lag Amerika. Reisen und Abenteuer des deutschen Naturforschers Georg Wilhelm Steller. VEB Brockhaus, Leipzig 1966

http://tolweb.org/Sirenia/15984

http://komandorsky.ru/en/might-be-miracle.html

Nostoc – der älteste Landbewohner

Auf der Erde vor 2,5 Milliarden Jahren - mit Blaugrünen Bakterien

Auf der Erde vor 2,5 Milliarden Jahren – mit Blaugrünen Bakterien (Fotos und Kombination W.Probst 2014)

Die Bakteriengattung Nostoc wurde von der Vereinigung für Allgemeine und Angewandte Mikrobiologie (VAAM) zur Mikrobe des Jahres 2014 gewählt.

http://mikrobe-des-jahres.de/content/nostoc/index.html

Vor zweieinhalb Milliarden Jahren

Ein ET landet vor zweieinhalb Milliarden Jahren auf der Erde. Es gibt keine Wälder und keine grünen Wiesen. Aber ganz ohne Bewuchs sind Berge und Täler nicht. Auf feuchten Sand- und Schotterflächen finden sich große Mengen von schwärzlichen Krusten. Wenn ein Regenguss diese Krusten aufweicht , quellen sie zu olivgrünem Glibber auf. Seine Messinstrumente zeigen dem Außerirdischen, dass es sich bei diesem Glibber um Lebewesen handelt. Sie gewinnen ihre Lebensenergie indirekt aus dem Sonnenlicht, indem sie Teile der Sonnenstrahlen (elektromagnetische Wellen) der Sonne nutzen, um das in der Atmosphäre reichlich vorhandene Kohlenstoffdioxid in energiereiche Kohlenhydrate zu verwandten. Die energiereichen Verbindungen, die beim Abbau dieser Kohlenhydrate in den kleinen in eine gallertige Substanz eingebetteten Zellketten dieser Lebewesen gebildet werden, dienen auch dazu, die Stickstoffmoleküle aus der Atmosphäre zum Aufbau von Aminosäuren und Proteinen zu assimilieren.

Stickstmoffassimilation und Kohlenstoffassimilation laufen parallel in verschiedenen Zellen ab. Dabei muss die Heterocystenzellwand für O2-Moleküle ziemlich dichtsein, denn die Nitrogenase ist extrem sauerstoffempindlich

Stickstmoffassimilation und Kohlenstoffassimilation laufen parallel in verschiedenen Zellen ab. Dabei muss die Heterocystenzellwand für O2-Moleküle ziemlich dicht sein, denn die Nitrogenase ist extrem sauerstoffempindlich.

Der olivfarbene Glibber ist „photolithoautotroph“:
autotroph = nicht auf organische Betriebsstoffe angewiesen
photo- = Licht dient als Energiequelle
litho- = Kohlenstoff stammt aus anorganischen Material

Die ersten Landlebewesen

Im Allgemeinen wird angenommen, dass die ersten Lebewesen, die vom Wasser- zum Landleben übergegangen sind, aus Grünalgen entstandene moosähnliche Pflanzen waren, und dass ihr Landgang vor etwa 450 Millionen Jahren begonnen hat. Man kann aber durchaus davon ausgehen, dass auch schon kernlose Lebewesen, also Bakterien und Archäen, Lebensformen entwickelten, die an das Landleben angepasst waren, wie sie dies heute noch sind. Ob dies – wie in der Einleitung angenommen – schon vor zweieinhalb Milliarden Jahren möglich war, oder wegen der zunächst noch sehr hohen UV-Strahlung erst deutlich später, ist nicht sicher.

Ein solches ursprüngliches Landlebewesen ist das Blaugrüne Bakterium Nostoc commune , dessen bis zu Handteller große Kolonien man auf offenen, mageren Böden auch heute noch finden kann.

Kolonie von Nostoc commune

Kolonie von Nostoc communem (feucht)

Kolonie von Nosatoc commune (ausgetrocknet)

Kolonie von Nostoc commune (ausgetrocknet)

Bei feuchtem Wetter bilden sie unregelmäßige, schleimige Klumpen, bei Trockenheit papierdünne schwärzliche Krusten. Es handelt sich also um ausgesprochen wechselfeuchte (poikylohydre) Lebewesen, die vollständige Austrocknung sehr gut ertragen und lange überdauern können (Anhydrobionten). Sie produzieren eine dicke äußere Hülle aus quellfähigen Polysacchariden (Mehrfachzuckern), die bei Feuchtigkeit ein glibbriges Substrat abgeben, in welchem die Zellketten dann auf dem Land unter wasserähnlichen Bedingungen leben können. Nostoc punctiforme ist ein terrestrisches Bakterium dass man frei lebend im Boden sowie in Symbiose mit verschiedenen Pflanzenarten finden kann, zum Beispiel bei Hornmoosen, Lebermoosen, Cycadeen (Wedelnacktsamer, „Palmfarne“) und dem Mammutblatt (Gunnera).
Auch andere Blaugrüne Bakterien (Cyanobacteria) sind Landbewohner. So sind sie zum Beispiel wichtige Bestandteile der mikrobiellen Krusten von Wüstenböden und der Tintenstriche an Kalkfelsen.

Für alle Cyanobakterien gilt, dass sie wie Algen und Pflanzen mithilfe von Lichtenergie zur Assimilation von Kohlenstoffdioxid in der Lage sind, wobei Wasser als Elektronendonator dient. Dabei wird Sauerstoff freigesetzt. Viele Cyanobakterien können darüber hinaus das Luftstickstoffmolekül assimilieren, das heißt, in organische Verbindungen einbauen. Diese Fähigkeit kommt nur bei kernlosen Lebewesen (Prokaryota) vor, zellkernhaltige Lebewesen (Eukaryota) zu sind hierzu grundsätzlich nicht in der Lage.

Zellifferenzierung

Nostoc-Zellkette mit Heterocyste

Nostoc-Zellkette mit Heterocyste

Wenn Zellen eines Lebewesens sich nach ihrer Teilung nicht trennen sondern zusammenbleiben größere Aggregate bilden, die einzelnen Zellen aber untereinander gleich sind, spricht man von „ZelKolonien“. Kommt es aber zu einer Differenzierung in verschiedene Zelltypen mit unterschiedlichen Funktionen, spricht man von Vielzellern. Ein Rostock und einigen anderen Blaugrünen Bakterien kann man eine solche Zelldifferenzierung beobachten, weshalb man sie als bakterielle Vielzeller auffassen kann: Die Nostoc-Zellketten bestehen aus „normalen“, Fotosynthese betreibenden Zellen, Stickstoff assimilierenden Heterocysten, der Überdauerung dienenden, sporenähnlichen Akineten und der Fortbewegung dienenden Hormogonien.

Zellkommunikation

Die einzelnen Zellen eines Nostoc-Zellfadens stehen über Nanoporen miteinander in Verbindung. Durch diese Poren stellen Multiproteinkomplexe die Brücken zwischen den Zellen her, durch die Signalstoffe und andere Stoffwechselprodukte transportiert werden können.

„Sternenrotz“

Sternenrotz am Straßenrand

Sternenrotz am Straßenrand

Die Kolonien von Nostoc commune sind schon den Menschen früherer Zeiten aufgefallen und sie haben sich Gedanken über ihre Entstehung und Herkunft gemacht. Der Name „Nostoc“ soll auf den Arzt und Alchemisten Paracelsus (1493-1541) zurückgehen, der die Gallerthüllen für einen „Sternenschnupfen“ hielt und daher angeblich das englische Wort nostril und die deutsche Übersetzung Nasenloch zu Nost-och verband. Andere Volksnamen sind zum Beispiel Erdgallerte, Zitteralge, Schleimling, Wetterglitt, Pockensnot, Sternschnupfen, Sternschnuppe, Sternschott, Sternräuspen, Sternschnäuze, Sternenrotz, Sternglugge, Hexenkaas, Hexendreck, Hexengespei, Leversee, Lebersee, Libbersee (Marzell ). Einige dieser Namen gehen auf die Vorstellung zurück, dass es ein „Lebermeer“ aus gallertigem Wasser gibt, in dem die Schiffe nicht vorankommen und die Gallertklumpen von Nostoc hielt man für Abkömmlinge dieses „geronnenen Meeres“.

Essbar

Mancherorts wurde und wird Nostoc als Nahrungsmittel genutzt. „Cushuru“ ist ein proteinhaltiges und eisenreiches Nahrungsmittel in den peruanischen Anden, das auf die Inkas zurückgeht. Auch in China ist Nostoc unter dem Namen „Ge-Xian-Mi“ als Nahrungsmittel bekannt.
Neuerdings versucht man auch, Medikamente aus Nostoc zu gewinnen. So befinden sich derzeit Substanzen gegen Krebskrankheiten oder HI-Viren in der Entwicklung. Auch für die Herstellung von Biokraftstoffen könnten Cyanobakterien künftig eine Rolle spielen.

Energiestoffwechsel der Lebewesen – Ein Wechselspiel zwischen Leben und Umwelt

Mit „Global Change“ oder Klimawandel bezeichnet man heute einen globalen Vorgang, bei dem ein Lebewesen, der Mensch, durch seine Aktivitäten die Umwelt so verändert, das sich die Umweltbedingungen auch für ihn ändern. Dieses Wechselspiel zwischen Leben und Umwelt ist allerdings so alt wie das Leben selbst. Als vor etwas weniger als 4 Milliarden Jahren auf der erstarrten Erdoberfläche die ersten Lebewesen entstanden und Stoffe aufnahmen und andere abgaben und dabei Lebensenergie gewannen (also Stoffwechsel machten), wurden die nützlichen Stoffe selten und die Abfallstoffe nahmen zu. So wäre ein schnelles Ende absehbar gewesen, wären nicht die Abfallstoffe zu Ausgangsstoffe anderer Lebensformen geworden, sodass es zu Rückkoppelungsschleifen kam.
Trotz solcher Recyclingprozesse waren die Grenzen für Leben so lange relativ eng gesteckt, bis als Abfallprodukt der Photosysthese auf Wasserbasis (Photolithoautotrophie) vor etwa 2,7 Milliarden Jahren ein Durchbruch erreicht wurde. Durch die Sauerstoffanreicherung in der Atmosphäre wurde die Versorgung mit freier Energie für die Lebewesen wesentlich einfacher. Diese Form der Photosynthese führte dazu, dass vor etwa 2,2 Milliarden Jahren die Atmosphäre einen so hohen Sauerstoffgehalt hatte, dass aerobe Atmung möglich wurde.

Litertatur/Quellen

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Ausführliche Literatur- und Quellenliste zum UB-Heft 405 „Pilze“

Bei den Recherchen zum UB Heft über Pilze, das voraussichtlich im Juni 2015 erscheinen wird, habe ich wesentlich mehr Literatur konsultiert als in der Literaturliste zum Basisartikel angegeben. Deshalb folgt hier eine ausführlichere Liste. Für wichtige oder besonders interessante Ergänzungen wäre ich dankbar.

Wilfried Probst, im November 2014

Zeitschriften, Beiträge zu Sammelbänden

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Pilze bestimmen mit dem PC
http://www.pilze.ch/pilzbestimmung/cd-2000pilze.htm

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Krieglsteiner, G./Gminder, A./Winterhoff, W. (2000-2010): Die Großpilze Baden-Württembergs. 5 Bände (nur Ständerpilze). Stuttgart: Ulmer

Michael, E. /Hennig, B./Kreisel, H. (1975-1987): Handbuch für Pilzfreunde, 6 Bände, Jena: G. Fischer

Moser, M./Jülich, W. (1985-2005): Farbatlas der Basidiomyceten. Lfg. 1-22. Heidelberg/Berlin: Springer-Spektrum

 

Zeitschriften (nur Deutschland)

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Mycologia Bavarica – Bayerische mykologische Zeitschrift, Hrsg. Bayerische Mykologische Gesellschaft und Verein für Pilzkunde München

Südwestdeutsche Pilzrundschau, Hrsg. Verein der Pilzfreunde Stuttgart

Der Tintling, Hrsg. Karin Montag, Schmelz

Zeitschrift für Mykologie, Hrsg. Deutsche Gesellschaft für Mykologie,

Hier findet man Weblinks zu deutschen, österreichischen und schweizer Pilzzeitschriften:
http://www.entoloma.de/weblinks/zeitschriften-und-periodika.html

 

Weitere URLs

Pilze und Naturschutz
http://www.anl.bayern.de/veranstaltungen/tagungsergebnisse/2013pilze/index.htm

Pilze im Unterricht
http://www.dgfm-ev.de/node/17

http://www.dgfm-ev.de/node/1241

http://www.dgfm-ev.de/category/hauptmen%C3%BC/projekte/kinder-und-jugend/kopiervorlagen

http://crcooper01.people.ysu.edu/4848Home.html

http://mycology.cornell.edu/fteach.html

http://www.mycolog.com/

http://www.bcp.fu-berlin.de/en/biologie/arbeitsgruppen/mikrobiologie/ag_mutzel/res/pilzvorlesungst.pdf

http://www.schulportal-thueringen.de/web/guest/media/detail?tspi=2200

Teaching the fungal tree of life
http://www.clarku.edu/faculty/dhibbett/TFTOL/content/1introprogress.html
http://www.clarku.edu/faculty/dhibbett/TFTOL/content/4folder/homobasidiomycetes.html

Große Pilzausstellung, München 2006
http://www.botmuc.de/v-2006/06-09-15-pilze.html

Kingdom of fungi
http://www.mycolog.com/CHAP1.htm

Cladogramm Pilzsystem
Parniske, M.: Arbuscular mycorrhiza: the mother of plant root endosymbioses. Nature Reviews Microbiology 6, pp. 763-775 (October 2008) | doi:10.1038/nrmicro1987
http://www.google.de/imgres?biw=1393&bih=891&tbm=isch&tbnid=r6TiymNk9cfazM%3A&imgrefurl=http%3A%2F%2Fwww.nature.com%2Fnrmicro%2Fjournal%2Fv6%2Fn10%2Ffig_tab%2Fnrmicro1987_F1.html&docid=HoCYcQKHWnvfDM&imgurl=http%3A%2F%2Fwww.nature.com%2Fnrmicro%2Fjournal%2Fv6%2Fn10%2Fimages%2Fnrmicro1987-f1.jpg&w=655&h=1074&ei=UJffUoPtAsaThQfIloGIDg&zoom=1&iact=rc&dur=767&page=1&start=0&ndsp=36&ved=0CFoQrQMwAA

Pilzgerüche
http://www.vapko.ch/index.php/de/fragen-rund-um-pilze/die-seite-fur-den-anfanger/152-26-die-pilzgerueche

Endophytische Pilze
http://www.storckverlag.de/wp-content/uploads/2012/05/Fortbildung-2010-03-Endophyten-Quelle-pflanzlicher-Arzneistoffe.pdf

Pilzproduktion
http://german.china.org.cn/archive2006/txt/2002-06/12/content_2033432.htm
http://www.pilz-kultur.at/Die%20Seite/
http://pilzzuchtshop.de/anleitung2.php?mode=ext#anker2
http://pilzzuchtshop.de/Pilzzuchtkultur%20Substrate.php

Selenhaltiger Brasilianischer Mandelpilz
http://en.wikipedia.org/wiki/Agaricus_subrufescens
http://www.gesunde-pilze.de/nachhaltigkeit.html

Giftpilzliste nach Syndromen
http://www.dgfm-ev.de/s/default/files/21-04-2014Giftpilz-Liste-AG_HA-w97.pdf

Pilztote
http://www.welt.de/gesundheit/article131879273/Schwere-Pilzvergiftungen-nehmen-in-Deutschland-zu.html
http://www.pilzschule.de/html/pilztote.html

Heilpilze
http://www.heilenmitpilzen.de/heilpilze.html

Predatoren
http://www.nematophage-pilze.de/

Fliegenpilz und Kinderlied „Ein Männlein steht im Walde …“
http://realasmodis.blog.de/2012/11/08/maennlein-steht-walde-15181429/

Riesenfruchtkörper
Macrocybe titans
http://www.mushroomexpert.com/macrocybe_titans.html
Fomitoporia ellipsoidea
http://www.bbc.co.uk/nature/14294283

Pilze – Pioniere der Biotechnologie
https://www.youtube.com/watch?v=Vke_BraoyTw

Radioaktive Belastung
http://www.umweltinstitut.org/themen/radioaktivitaet/messungen/waldproduktmessungen.html

Karl Kuhn (1934 – 2014) und Johann Amos Comenius (1592 – 1670)

Am 21. Oktober 2014 wäre Karl Kuhn, bis 1999 Professor für Didaktik der Biologie an der Pädagogischen Hochschule Freiburg, 80 Jahre alt geworden. Ich war zu dem Geburtstag eingeladen. Doch am 15. Juli erhielt ich einen Brief von Karl, indem er mir mitteilte, dass dieser Geburtstag nicht mehr gefeiert werden wird: “Meine Zeit ist abgelaufen“ teilte er mir mit. Da er Verdauungsprobleme hatte, war er zum Arzt gegangen und es stellte sich heraus, dass er Leberkrebs in einem fortgeschrittenen Stadium hatte. Nachdem man ihm die Prozedur einer möglichen Operation und die damit verbundenen Heilungschancen erklärt hatte, entschloss er sich, diesen Eingriff nicht vornehmen zu lassen. Man prophezeit ihm ein maximale Überlebenszeit von sechs Wochen und das traf auch ziemlich genau zu. Am 23. August 2014 ist Karl Kuhn in seinem Haus in Eichsel am Dinkelberg, in dem er fast 50 Jahre gelebt hatte, im Kreise seiner Familie gestorben.

Von Karl Kuhn habe ich gelernt, dass guter Unterricht, und speziell guter Biologieunterricht, eher eine Kunst als eine Wissenschaft ist. Diese Kunst ist – teilweise zumindest – erlernbar, wie alle anderen Künste auch. Sie ist aber nur schwer messbar und objektiv bewertbar, lebt von subjektiven Erfahrungen, zwischenmenschlichen Beziehungen, Emotionen. Mit Methoden der empirischen Sozialforschung lässt sich nur in sehr begrenztem Maße herausfinden, wie ein gelungener Unterricht aussehen muss.
Durch Karl wurde mir deutlich, dass unmittelbaren Erfahrungen, wie sie mit Beobachtungen und Experimenten verbunden sind, und Naturbegegnungen und -erlebnisse im Freien unvergleichliche Instrumente für guten Biologieunterricht sind. Solche Möglichkeiten stehen in anderen Fächern gar nicht oder in viel geringerem Maße zur Verfügung, auf sie zu verzichten bedeutet, auf die entscheidende Motivationsmöglichkeit für Biologie zu verzichten.

Karl war ein Beweis dafür, dass Neugier und Offenheit für unterschiedlichste Wissensgebiete nicht zu Oberflächlichkeit, sondern im Gegenteil eher zu einem tieferen Verständnis führt, als einseitige Spezialisierung. Er konnte sich immer wieder für neue Themen begeistern und seine neuen Entdeckungen auch begeisternd weitergeben. Noch mit fast 79 legte er sich mit seinem Enkel drei Nächte lang im Feldbett auf eine Geländekuppe bei Eichsel unter den klaren Sternenhimmel, um die Sternschnuppen der Perseiden zu beobachten.
Zu den nicht unbedingt beliebtesten Pflichtveranstaltung von Lehramts-Studierenden gehörte (und gehört?) eine in der Regel als Seminar abgehaltene Veranstaltung „Didaktik der Biologie“, in der meist auch ein historischer Abriss gegeben wird, der häufig mit dem „Vater der Didaktik“ Johann Amos Comenius beginnt. Karl Kuhn hatte die originelle Idee, diese etwas trockene Materie dadurch lebendig zu gestalten, dass er Comenius auferstehen und in einem Interview zu Wort kommen ließ. Da dieses „Schauspiel“ nie veröffentlicht wurde, möchte ich es hier im Andenken an meinen Lehrer und Freund Karl Kuhn zugänglich machen:

Karl Kuhn
Ein Gespräch mit JOHANN AMOS COMENIUS

Anmerkungen zu dem Schauspiel

Art des Schauspiels
Ich habe versucht, ein Schauspiel in der Art zu schreiben, wie es Comenius getan hat. Es waren keine Theaterstücke in unserem heutigen Sinn, sondern Lehrstücke, bei denen die Texte aufgesagt wurden, ohne dass sich die Schauspieler sehr bewegten. Auch in dem vorliegenden Schauspiel wird mehr deklamiert als gespielt mit dem Ziel, zu informieren.

Zum Inhalt
In dem Schauspiel soll die Zeit des Dreißigjährigen Krieges mit wenigen Strichen nachgezeichnet werden (Musik, Literatur, Baukunst, Zeitgenossen) und in Zusammenhang mit dem Lebenslauf von Comenius gebracht werden. Der Schwerpunkt liegt bei den didaktischen Arbeiten von Comenius, die über weite Strecken zitiert werden.

Zur Stoffauswahl
Bei der Auswahl des Stoffes habe ich versucht, Überlegungen und Gedanken von Comenius aufzunehmen, die für uns heute noch grundlegend sind. Vollständig lässt sich das Gedankengut von Comenius nicht darstellen, so dass die Auswahl nicht fest liegt und von den Darstellern verändert werden kann. Es können Texte dazu kommen oder gestrichen werden, die Anordnung der einzelnen Passagen kann verändert werden. Dadurch würde der Text nur gewinnen und den Erwartungen der Studierenden wahrscheinlich mehr entsprechen. Z. B. könnte die Schulszene aufgenommen werden, die V.J. Dieterich zitiert (p. 93). Auf jeden Fall sollten Sie sich in der angegebenen Literatur umsehen.

Zur Darstellung
Bei den beiden letzten Aufführen hat sich gezeigt, dass die Zuhörer zu Beginn nicht recht wussten, was das Ganze soll. Die Darsteller sollten vor der Aufführung das Publikum in das Stück einführen.

J O H A N N  A M O S  C O M E N I U S

1. Sprecher
Wir schreiben das Jahr 1645. Europa ist verwüstet. Seit 1618 ziehen katholische und protestantische Kriegshorden plündernd und brandschatzend durch das Land, in einem Krieg, den spätere Generationen den Dreißigjährigen Krieg heißen werden.

2. Sprecher
Liebe Brüder,
vertrieben aus Böhmen, unsere Städte und Dörfer niedergebrannt, versammeln wir uns im Verborgenen hier als Flüchtlinge, als Asylanten in Polen. Wir bitten um Gottes Schutz, dass dieser Ort den Katholiken nicht bekannt werde, da uns sonst allen der sichere Tod bevorstehen würde.

3. Sprecher
Lasst uns in Gedanken zurückgehen zu dem Ursprung unseres protestantischen Glaubens.

• 1517 schlug Martin Luther an der Schlosskirche zu Wittenberg seine Thesen an.
• Ein Jahrhundert später:
1618 begann mit dem Fenstersturz zu Prag der Dreißigjährige Krieg.

Dazwischen lag die Zeit der Reformatoren: Zwingli in Zürich,
Calvin in Genf.
Es war die Zeit der Sekten und des Bauernkrieges.

Es war aber auch die Zeit der Renaissance (15./16. Jhd.), die das Mittelalter ablöste und die man später als Beginn der Neuzeit bezeichnet hat.
– Kopernikus, Galilei, Kepler begründen ein neues Weltbild.
– Kolumbus entdeckt am 12. Oktober 1492 die Antilleninsel Guananhani, Cuba und Haiti.
– Der Humanismus löst die Scholastik ab.
– Erasmus von Rotterdam (1467-1536) lehnt die Spaltung er Kirche ab und ist ein Feind Luthers. Trotzdem lebt er lange Zeit in dem protestantischen Basel und verlegt dort seine Bücher. Erst im Alter wird er ausgewiesen und findet hier in dem katholischen Freiburg seine Zuflucht.

2. Sprecher
Liebe Brüder,
ich habe die Ehre, Euch einen Mitbruder vorzustellen. Viele von Euch werden ihn vom Namen her kennen. Es ist unser Bruder im Herrn Johann Amos Comenius.

Ihr wisst, Bruder Johann gilt als einer der gelehrtesten Männer unserer Zeit …

Comenius
Halt ein! Halt ein! Ich muss widersprechen! `Die mich näher kennen, wissen, dass ich ein Mann von schwachem Verstande und geringer Gelehrsamkeit bin.`(Gr. Did. 1985 p. 14)

2. Sprecher
Sei beruhigt Bruder Johann, wir kennen Deine Bescheidenheit.

1. Sprecher
Vergegenwärtigen wir uns das Curriculum vitae unseres Gastes!

Am 28. März 1592 wurde Jan Komenský als Sohn des angesehenen Bürgers Martin Komenský und seiner Frau Anna in der ostmährischen Ortschaft Nivnice geboren. Mit 10 Jahren verlor Jan seinen Vater, mit 11 Jahren seine Mutter und zwei Schwestern. Eine Tante nimmt das Waisenkind auf und Jan kommt nach Stranice im südlichen Mähren.

Als Jan 13 Jahre alt ist, wird der Ort überfallen und niedergebrannt. Er kommt zu seinem Vormund nach Nivnice zurück, einem Müller. Er lernt das bäuerliche und handwerkliche Leben kennen und fasst selbst bei der Arbeit mit an. Eine Schule besucht er nicht. Mit seiner Heimat ist er tief verbunden.

Comenius
Ja, meine Heimat habe ich sehr geliebt. ‚Das Paradies der Erde ist Europa. Das Herz Europas ist Deutschland und Deutschlands Herz ist Böhmen. Ein Land, wo Milch und Honig fließen’.

1. Sprecher
Jan macht eine kleine Erbschaft. Da wird der 16-jährige von seinem Vormund auf die Höhere Schule der Brüder in Perrau geschickt. Bereits nach 3-jährigem Schulbesuch ist er reif für die Universität.

2. Sprecher
Bruder Jan, vermutlich blickst Du mit Dankbarkeit auf Deine Schulzeit zurück.

Comenius
Im Gegenteil, wie hasse ich die Schule, in der ich nur gepaukt und gepaukt habe, in der Verbalismus an Stelle von Realismus geherrscht hat. ‚Von vielen Tausenden bin auch ich einer, ein armes Menschenkind, dem der liebliche Lebensfrühling, die blühenden Jugendjahre mit scholastischen Flausen verdorben wurden … Ach wie oft hat der Schmerz mich ausrufen lassen: – Brächte doch Jupiter mir die verflossenen Jahre zurück -. Aber das sind vergebliche Wünsche. Der Tag, der verstrichen ist, kommt nicht zurück. Keiner von uns, der seine Jahre hinter sich hat, wird wieder jung und lernt, sein Leben aufs neue zu beginnen und sich mit besserer Ausrüstung dafür zu versehen: da ist kein Ausweg. – Nur eines bleibt und eines ist möglich, dass wir die Hilfe, die wir den Nachkommen leisten können, wirklich leisten. Haben wir nämlich gezeigt, in welche Irrtümer uns unsere Lehrer hineingestürzt haben, so müssen wir zeigen, auf welchem Weg man diese Irrtümer vermeiden kann.’(Dietr. p. 13)

2. Sprecher
Die einst glanzvolle Universität Prag lag danieder, durch theologische Kämpfe um die hussitischen und lutherischen Lehren erschöpft. Deshalb zog Jan neunzehnjährig im Jahre 1611 an die neu gegründete calvinistische Hochschule in Herborn und immatrikulierte sich für Theologie. Professor Alsted beeindruckte ihn durch seine enzyklopädischen Bemühungen und durch den Gedanken einer großen Weltharmonie. Von ihm lernt Comenius eine wirkungsvolle Arbeitstechnik: Der Professor lässt seine Studenten Zitate notieren (Computer gab es nicht!) und anschließend ordnen. Nach diesem Zettelkastensystem hat Comenius zeitlebens gearbeitet.

1. Sprecher
Zwei Jahre später immatrikuliert sich Comenius an der calvinistischen Universität Heidelberg.

2. Sprecher
Bruder Jan, in Herborn hat Du Dir den zweiten Namen Amos zugelegt, so dass ich Dich Johann Amos nennen muss. Schon nach einem Jahr in Heidelberg hast Du Deine Studien beendet. Warum so rasch?

Comenius
Das war nicht mein Entschluss, war ich doch erst 22 Jahre alt. Die Unität, das ist die Brüderschaft, hatte für eine Promotion kein Geld und legte auf äußere Titel keinen Wert. Ich kehrte in meine Heimat zurück. „Ich legte den Weg von Heidelberg nach Prag ausschließlich zu Fuß zurück, bewahrt durch die Begleitung eines Schutzengels und durch eine unverwüstliche Konstitution. Die Ursache war, dass von dem Reisegeld nicht mehr viel zurückgeblieben war und dass ich mir gerade durch die Bewegung die Genesung von einer Krankheit erhoffte, eine Hoffnung, die mich nicht täuschen sollte.“ (Dietrich p. 23)

1. Sprecher
Fahren wir fort, den Lebenslauf von Johann Amos Comenius weiter zu verfolgen.

Nach seiner Rückkehr in Mähren wurde ihm die Leitung der Schule in Perrau übertragen, derselben, die ihm noch vor nicht langer Zeit entlassen hatte. Er schrieb dort unter anderem eine Grammatik und Wortkunde seiner böhmischen Muttersprache.

Mit 24 Jahren empfängt er die Weihen als Pfarrer der Unität. – Nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges 1648 wird er, im Alter von 56 Jahren, zum leitenden Bischof der Unität gewählt.

2. Sprecher
Gehen wir der Reihe nach vor: 1618 brach der große Glaubenskrieg aus. Spanische Truppen besetzten das Land. Comenius und seine Brüder mussten sich verbergen. Seuchen brachen aus, die seine Frau und die beiden Kinder dahinrafften. Comenius musste seinen Wohnort mehrfach wechseln. Er flüchtete nach Polen und fand für sich und die Brüder in der Stadt Lissa Asyl. Er unterrichtete dort an einer Adelsschule.

Comenius
„Um die Schwierigkeiten des Exils zu bewältigen, sah ich mich zur Schultätigkeit gezwungen.“ (Dietrich p. 50) Ich ärgerte mich darüber, dass man mich, den studierten Theologen und erfahrenen Pädagogen, zu Beginn am Gymnasium nicht eigentlich als Lehrer , sondern nur als Lehrgehilfe einsetzte. Ich musste den Unterricht der kleinen Kinder übernehmen. Aber acht Jahre später wurde ich dann Rektor an dieser Schule.

Es hat mir die Zeit sehr erleichtert, dass ich nicht nur unterrichten musste, sondern auch noch das Amt als Pfarrer und Prediger der Gemeinde hatte.

Ich hoffte auf eine baldige Rückkehr in die Heimat und bereitete für diese Zeit einen Schulplan vor.

1. Sprecher
Bruder Amos, ich denke, dass Du aus reiner Begeisterung und mit Feuereifer daran gegangen bist, als Pädagoge Dein Hauptwerk, die Didactica Magna, zu verfassen.

Comenius:
So könnte es scheinen, aber „ich bekenne, ich habe oft bereut, dass ich versprochen habe, diese Sache auszuarbeiten, anstatt meine ganze Zeit dem Studium der Natur zu widmen. Es verdrießt mich sehr, mich mit den Worten abzumühen, diese Wortklauberei, wie ich selbst ironisch zu sagen pflege. Aber was soll ich tun? Die Erwartungen unter der Lehrerschaft sind eine Tatsache.“ (Dietrich p. 82) Weiterhin schreibe ich auch aus finanzieller Not und erhoffe mir einen Gewinn von meinen Büchern.

2. Sprecher
Es entsteht hier die tschechische Fassung der „Didaktik“ (1628-1630). Bald darauf entsteht die lateinische Sprach- und Sachkunde „Janua linguarum reserata“, die sich schnell durchsetzt und bald und oft neu aufgelegt wird. Zwei Jahre später folgt das Lehrbuch für die Schulanfänger „Vestibulum januae linguarum“.

Die Arbeiten von Comenius werden über die Grenzen hinaus bekannt. Er erhält  Einladungen nach England, Holland und Schweden. Richelieu in Frankreich will mit seiner Hilfe eine pansophische Schule gründen, liegt aber bald danach auf dem Sterbebett.

Comenius trifft sich in Holland mit Descartes, der seine Arbeiten früh verfolgt hat, ihm aber vorwirft, er vermische Vernunft- und Offenbarungswahrheiten.

1. Sprecher
Nach dem Westfälischen Krieg reist Comenius nach Siebenbürgen. Er versucht dort den Schulstoff in dialogische Form zu gießen und von den Schülern aufführen zu lassen.

Der berühmte „Orbis pictus“ entsteht hier.

Auch in Polen ist keine Bleibe. 1655 bricht der schwedisch-polnische Krieg aus, zu dem Comenius Schweden ermuntert hatte. Lissa mit dem Haus von Comenius wird zerstört, seine Bücher und all seine Habe öffentlich verbrannt.

Comenius findet 1656 in Amsterdam Asyl, wo er bis zu seinem Tode bleibt.

Comenius
„Mein Leben war ein Wandern, eine Heimat hatte ich nicht. Es war ein ruheloses, fortwährendes Umhergeworfenwerden, niemals und nirgends fand ich einen festen Wohnsitz. (Dietrich p. 31)

1. Sprecher
Lieber Bruder Johann,
nachdem wir von Deinem Leben gehört haben, möchten wir noch einige Fragen an dich stellen und bitten Dich darum, aus Deiner großen Erfahrung und Deinem Wissen uns Auskunft zu erteilen.

Wer stellt die erste Frage?
(Anmerkung: Die Fragen sind unter den Zuhörern auf kleinen Zetteln verteilt, so dass die Fragen vom Publikum gestellt werden.)

1. FRAGE
Bruder Johann, wie stellst Du Dich zur Entwicklungspsychologie? Wie soll man kleine Kinder und wie die älteren unterrichten?

Comenius
Dies habe ich mir zum obersten Prinzip gemacht: „Aller Lehrstoff muss den Altersstufen gemäß so verteilt werden, dass nichts zu lernen aufgegeben wird, was das jeweilige Fassungsvermögen übersteigt“ . Innerhalb der Schule soll deshalb die nach Jahrgängen gestufte Klasseneinteilung herrschen.

Ich teile die Kindheit und Jugend in vier Stufen zu jeweils sechs Jahren ein; dies führt zu einem viergliedrigen Schulsystem:

I. Die Schule der Kindheit sei:
Der Mutterschoß (1.-6. Jahr)
II. Die des Knabenalters:
Die Grund- oder Öffentliche Muttersprachschule (7.-12. Jahr)
III. Die der Jünglingszeit:
Die Lateinschule oder das Gymnasium (13.-18. Jahr)
IV. Die des beginnenden Mannesalters:
Universität oder Reisen (19.-24. Jahr) (Gr. Did. p. 186)

2. FRAGE
Wie sollen denn die Mütter ihre Kinder erziehen?

Comenius
Darüber habe ich mir Gedanken gemacht und dies in dem Informatorium der Mutterschul niedergeschrieben.
„Das Informatorium der Mutterschul, das ist ein richtiger und augenscheinlicher Bericht, wie fromme Eltern sich teils selbst, teils durch ihre Ammen, Kinderwärterin und andere Mitgehilfen ihr allerteuerstes Kleinod, die Kinder, in den ersten sechs Jahren, ehe sie den Präzeptoren übergeben werden, recht vernünftiglicht, Gott zu Ehren, ihnen selbst zu Trost, den Kindern aber zur Seligkeit auferziehen und üben sollen“. (Dietr. p. 59)

2. Sprecher
Mit dieser Schrift hat Comenius die erste größere eigenständige Abhandlung über die Erziehung im Vorschulalter überhaupt verfasst.

3. FRAGE
Wie sollen wir in der Grundschule verfahren?

Comenius
Ich denke, Bruder, mit der Grundschule meinst Du die Schule des Knabenalters. Die Kinder sind dann 6 Jahre alt und besuchen diese Schule 6 Jahre lang.

„Die Durchführung sei angenehm, so dass alles sozusagen wie im Spiele geschehe, und zwar ständig

1. durch eigene Anschauung
2. durch eigenes Aussprechen
3. durch eigenes Tun
4. durch eigenen Gebrauch.

Es soll den Kindern also gestattet sein,
1. alles zu sehen, hören und zu betasten
2. alles auszusprechen, zu lesen und zu schreiben
3. alles nachzubilden und zu tun
4. alles zu ihrem Nutzen zu verwenden“ (Pamp.Kap. X p 289)

5. FRAGE
Gibt es nach Deiner Meinung, Bruder Amos, eine Methode, die sich besonders eignet?

Comenius
„Die jungen Menschen sind noch ungeschickt im Umgang mit der Sachenwelt; darum müssen sie in diesem Alter besonders treue und tüchtige Lehrer haben. Das gilt auch darum, weil die ersten Fundamente eines Gebäudes und die ersten Grundlinien eines Gemäldes gut ausgeführt sein müssen; denn wie der Anfang, so wird alles. Der Lehrer für die unterste Klasse sei darum weiser als die anderen; man sollte ihn deshalb durch bessere Bezahlung gewinnen.“ (Pamp. 283)

6. FRAGE
Ja , mit der Bezahlung sind wir gleich einverstanden. – Ich denke, wir sollten auch nur ganz wenige Kinder in kleinen Gruppen unterrichten.

Comenius
Das sehe ich ganz und gar nicht so.
„Ich behaupte, es ist nicht nur möglich, dass ein Lehrer (magister) eine Gruppe von etwa hundert Schülern leitet, sondern sogar nötig, weil dies für die Lehrenden wie Lernenden weitaus am angenehmsten ist. Jener wird ohne Zweifel mit um so größerer Lust sein Tagewerk verrichten, je zahlreicher die Schar ist, die er vor sich erblickt (wie denn auch die Bergleute in einer reichen Mine die Hände freudiger regen); und je eifriger er selbst ist, desto lebhafter wird er seine Schüler machen. …

Außerdem kann es leicht geschehen, wenn der Lehrer (doctor) nur von wenigen gehört wird, dass dies oder jenes an den Ohren aller vorübergeht; hören ihm aber viel zu, so erfasst jeder soviel er kann, und bei den nachfolgenden Wiederholungen kommt alles noch einmal zur Sprache und allen zu gut, da sich ein Geist an dem anderen, ein Gedächtnis am anderen entzündet. Kurz, wie der Bäcker mit einem Teigkneten, einem Ofenheizen viele Brote bäckt …. der Buchdrucker mit einem Schriftsatz hundert oder tausend Bücher druckt: gerade so kann ein Schulmeister (ludi magister) mit denselben wissenschaftlichen Übungen ohne besondere Mühe eine sehr große Schülerzahl zusammen mit einem mal unterrichten. …“ (Gr. Did. p. 122)

7. FRAGE
Wie kann ein einziger Lehrer für eine so große Schülerzahl ausreichen?

Comenius
Es genügt „ein einziger Lehrer für die größte Schülerzahl, wenn er nämlich

I. die Gesamtzahl in Gruppen, z. B. je zehn Schülern unterteilt, über jede Gruppe einen Aufseher setzt, über die wieder andere bis zuoberst;
II. niemals einen allein unterrichtet, weder privat, außerhalb der Schule noch während des öffentlichen Unterrichts in der Schule, sondern gleich alle zusammen. Er soll also zu niemandem besonders hingehen und nicht dulden, dass einer besonders zu ihm hinkomme, sondern auf dem Katheder bleiben, (wo er von allen gehört und gesehen werden kann) und wie die Sonne seine Strahlen über alle verbreiten. Alle aber sollen ihm Auge und Ohr und ihre Aufmerksamkeit zuwenden und alles aufnehmen, was er vorträgt, vormacht oder vorzeigt. …“ (Gr. Did. p. 122)

8. FRAGE
Bruder Comenius, wie soll dann Deiner Meinung nach eine Schule eingerichtet sein?

Comenius
„Die Schule selbst soll eine liebliche Stätte sein, von außen und von innen den Augen einen angenehmen Anblick bieten: Innen ein helles, sauberes Zimmer, das rundherum mit Bildern geschmückt sein soll. Die Bilder können berühmte Männer darstellen oder auch geschichtliche Ereignisse, es können auch Landkarten sein oder irgendwelche Embleme.

Draußen soll nicht nur ein Platz vorhanden sein zum Springen und Spielen, denn dazu muss man den Kindern Gelegenheit geben, sondern auch ein Garten, in den man sie ab und zu schicken soll, dass sie sich im Anblick der Bäume, Blumen und Gräser freuen können. Wenn es so eingerichtet ist, kommen die Kinder wahrscheinlich nicht weniger gern in die Schule als sie sonst auf Jahrmärkte gehen, wo sie immer etwas Neues zu sehen und zu hören hoffen. (Gr. Did. p. 100)

9. FRAGE
Wie führen wir die Schüler an die Natur heran? Wie steht es mit der Freilandbiologie?

Comenius
…“wenn man die Schüler im Frühling aufs Feld oder in den Garten führt, ihnen die Arten der Kräuter zeigt und sie in ihren Kenntnissen wetteifern lässt, so wird sich nicht zur zeigen, wer eine natürliche Neigung zur Botanik hat, sondern die Flamme einer solchen Neigung wird gleich geschürt.“

10. FRAGE
Immer wieder hören wir, wir sollten „ganzheitlich“ unterrichten. Wir haben damit Schwierigkeiten und wissen oft nicht recht, was damit gemeint ist. Hast du Dir auch darüber Gedanken gemacht?

Comenius
Dies ist in der Tat eine schwierige Frage. Ich muss gestehen, ich habe mich lange mit dieser Frage beschäftigt. In der Pampaedia habe ich 6 Kapitel dieser Frage gewidmet. OMNES – OMNIA – OMNINO, diese drei Worte sind schon zu einem Markenzeichen für mich geworden. Es geht „hier also darum, dass dem ganzen Menschengeschlecht, das Ganze, gründlich – pantes, panta, pantos – Omnes, Omnia, Omnino – gelehrt werde. „ (Pamp. p. 15)

Ich möchte hier noch ein klein wenig erläutern, was ich damit meine:

Die Lehrer des Ganzen

…(es) „muss nun alle Sorgfalt darauf verwandt werden, dass die Schüler aus den Schulen nicht nur gelehrte Bücher davontragen, sondern dass ihr Geist, ihr Herz, ihre Sprache und ihre Hand wirklich veredelt sind, dass sie ihr Leben lang die Weisheit nicht in Büchern, sondern in ihrem Innern bewahren und ihrem Tun bezeugen.“ … (Pamp. p. 169)

„Der wahre Lehrer muss seine Lehrkunst unter dem dreifachen Gesichtspunkt ansehen:

1. braucht er Einsicht in das Ganze (universalitas), damit jedermann das Ganze lehren kann.
2. Schlichtheit, um mit sicheren Mitteln sicher zum Ziele zu kommen,
3. Frische (spontaneitas), um alles angenehm und lustig zu machen wie im Spiel. (Pamp. p 173)

11. Frage
Wir verstehen immer noch nicht ganz, was Du meinst. Kannst du etwas deutlicher sagen, was du meinst?

Comenius
Ich greife hier nur einen Punkt heraus, nämlich den, der sich auf die Sachwelt bezieht:

1. Man muss die Sachen wissen
2. Man muss Einsicht gewinnen (in ihre Gründe)
3. und man muss sie gebrauchen.

Die Sachen wissen heißt, das Sein der Dinge im Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Berühren anerkennen. – Den Kindern soll man darum die Sinne schärfen. – (Pamp. 326/27)

Ich will es nochmals anders sagen:
“Alles soll, wo immer möglich , den Sinnen vorgeführt werden, was sichtbar dem Gesicht, was hörbar, dem Gehör, was riechbar, dem Geruch, was schmeckbar, dem Geschmack, was fühlbar, dem Tastsinn. Und wenn etwas durch verschiedene Sinne aufgenommen werden kann, soll es den verschiedenen zugleich vorgesetzt werden.“ (Kap. 20.6) (Gr. Did. p. 135)

Einsicht in die Sachenwelt gewinnen heißt, Wissen und Einsicht in die Sachen zu einem lebensnotwendigen Zwecke verwenden. Wie nach dem Willen des Schöpfers nichts sinnlos sein soll, so soll auch nichts umsonst gewusst und eingesehen werden.

12. FRAGE
Wie sollen wir den vielen Stoff an die Schüler herantragen?

Comenius
Alles, was von den Sachen in der Schule gelehrt wird, bedarf der Anschauung. Hier gehe ich neue Wege und habe mich mit diesem Problem ausführlich beschäftigt.

„Wenn die Dinge selbst nicht zur Hand sind, was immer am besten sein wird, so kann man Stellvertreter verwenden: Modelle oder Bilder, die zu Unterrichtszwecken angefertigt worden sind.

Der menschliche Organismus z. B. würde nach diesem Vorschlag höchst anschaulich gelehrt, wenn man die Knochen des menschlichen Skeletts (wie sie in den Universitäten echt oder aus Holz aufgewahrt werden) umgeben würde mit aus Leder gefertigten, mit Wolle ausgestopften Muskeln, Sehnen, Nerven, Venen und Arterien samt den Eingeweiden, Lunge, Herz, Zwerchfell, Leber, Magen und Gedärm: alles an seinem Ort und in den richtigen Proportionen, jeweils mit Aufschriften von Benennung und Funktion. Führt man im naturwissenschaftlichen Unterricht einen Schüler vor dieses Schaustück und erklärt und zeigt ihm alles einzeln, so wird er alles spielend begreifen und daraus den Bau seines Körpers verstehen. Derartige Anschauungsmittel (d. h. Nachbildungen von Dingen, die man selbst nicht haben kann) müssten für alles Wissenswerte angefertigt werden und in allen Schulen zur Hand sein. Kostet dies auch etwas Geld und Arbeit, so wird sich doch die Mühe reichlich lohnen.“ (Gr. Did. 135-137)

13. FRAGE
Nicht immer wird aber eine Sache zu beschaffen sein, was sollen wir dann tun?

Comenius
Auch ich habe mir dieses überlegt. Deshalb habe ich ein Schulbuch verfasst, das in deutscher und lateinischer Sprache geschrieben ist. Fein säuberlich sind die Bilder aus Holz geschnitten. Das Buch enthält alles, was es auf der Erde gibt und ist vortrefflich geeignet, den Kindern die Welt näher zu bringen.

Sprecher
Nur so nebenbei, Goethe hat als Knabe dieses Buch besessen und später sehr gerühmt, da es ihm anschaulich das Wissen der Welt vermittelt habe.

15. FRAGE
Bruder Amos, nach all dem, was wir nun von Dir gehört haben, wirst Du ein erfolgreicher und hochgeachteter Lehrer gewesen sein. Erfolg und Ruhm wird Dir wohl von allen Seiten zu Teil geworden sen.

Comenius
Lieber Bruder, Du verkennst die Welt und du kennst nicht die Realität in der Schule. Ich meine die Einstellung der Lehrer zu den Kindern und der Pädagogik ist Dir wohl fremd. Zwar fand ich Anerkennung und Ruhm im Ausland und in der Fremde, aber an meiner Schule in Sarospatak bin ich gescheitert.

„Meine Methode zielt insgesamt darauf ab, dass die Tretmühle Schule in Spiel und Vergnügen verwandelt wird. Das will hier niemand in den Kopf. Den freien Geist behandeln sie geradezu wie einen Sklaven, sogar beim Adel. Die Lehrer gründen ihre Autorität auf eine strenge, finstere Miene, auf harte Worte und sogar auf Prügel …“ (Dietrich p. 96)

16. FRAGE
Zum Schluss noch eine Frage, die uns alle sehr interessiert, die wir doch Lehrer werden wollen. Eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung: Wie siehst du das Verhältnis von Didaktik und Fachwissenschaft?

Comenius
Das war für mich noch nie eine Frage und dazu habe ich eine ganz eindeutige Meinung:

„Denn wenn man auch jede Art und Weise des Vortrags beherrscht, aber die Dinge, die man untersuchen oder empfehlen will, nicht genau kennt, wird man weder mit der Untersuchung noch mit der Empfehlung etwas erreichen. Wie eine Jungfrau ohne Schwangerschaft nicht gebären kann, so kann auch einer einen Gegenstand nicht vernünftig besprechen, den er nicht zuvor kennen gelernt hat“. (Gr. Did. 201).

1. Sprecher
Lieber Bruder Amos, deine Einstellung verwundert mich, aber vielleicht hast Du Recht. Sicher ist, wenn du dich mit dieser Auffassung an der PH Freiburg bewerben willst, dann rate ich dir, dich nicht bei den Pädagogen im Fachbereich I, sondern bei den Naturwissenschaften im Fachbereich III zu bewerben, da du sonst keine Chance hast.

2. Sprecher

Ich bin ganz sicher, dass wir noch viele Fragen stellen könnten. Doch schon schwirrt uns der Kopf.

Bruder Johann Amos wir danken dir, dass du den weiten Weg nicht gescheut hast und trotz Gefahr für Leib und Leben zu uns gekommen bist. Noch lange werden wir darüber nachzudenken haben, was du uns hier vorgetragen hast. Zum Glück ist alles, was du gesagt hast, veröffentlicht, und wir können Deine Gedanken Wort für Wort nachlesen.

LITERATUR
Comenius: Pampaedia. Heidelberg 1960
Comenius: Große Didaktik. Hrsg.: A. Flitner,. Düsseldorf-München 1970
Comenius: Informatorium der Mutterschul. Reprint. Heidelberg 1962
Comenius: Orbis sensualium pictus. Reprint. Dortmund 1978
Dietrich, V. J.: Johann Amos Comenius. rororo Monographie 1991
Flitner, A.: Leben und Werk des Comenius. In Comenius, Große Didaktik.
Anmerkung:
Textstellen von Dietrich und Flitner, die in die Dialoge eingeflochten sind, sind nicht besonders gekennzeichnet.

 

Luzerne und Sichelklee (ergänzende Fotos zum Beitrag in UB 404)

Die Heimat der Luzerne (Medicago sativa), international nach dem aus dem Arabischen stammenden spanischen Namen auch als Alfalfa bezeichnet, ist vermutlich Nordiran. Als sehr gutes Pferdefutter hat sie sich mit den Reitervölkern nach Westen ausgebreitet und ist mittlerweile eine weltweit angebaute Futterpflanzen. Allerdings handelt es sich bei den angebauten Sorten heute fast nie um die reine Art, sondern um eine Hybridart mit dem Sichelklee (Medicago falcata), einer auch in Mitteleuropa heimischen Art. Dieser Hybrid wird Medicago x varia genannt. Doch handelt es sich bei Luzerne und Sichelklee wirklich um zwei Arten?

Zu dem Thema ist ein Beitrag für das Unterricht Biologie Heft 404 „Populationen“(Erscheinungstermin Mai 2015) geplant.

Pflanzen helfen und heilen (zu UB 415)

Die Unterricht Biologie Hefte 415 „Pflanzen helfen und heilen“ und das zugehörige Schüler-Kompakt UB 416 „Ein Kraut für alle Fälle“ sind erschienen.

http://www.friedrich-verlag.de/shop/sekundarstufe/naturwissenschaften/biologie/unterricht-biologie/pflanzen-helfen-und-heilen?___SID=U

http://www.friedrich-verlag.de/shop/sekundarstufe/naturwissenschaften/biologie/unterricht-biologie/ein-kraut-fur-alle-falle?___SID=U

Beziehungen von Menschen und Pflanzen

Pflanzen sind für uns Menschen nicht nur die wichtigsten Lieferanten von Nahrung, sie liefern auch Bau- und Konstruktionsmaterial und Ausgangsmaterial für Kleidung. Diese elementare Abhängigkeit der Menschen von Pflanzen wird durch subtilere Nutzungen ergänzt. Die Kenntnis, dass spezielle Pflanzenarten auch zur Minderung von Krankheiten, zur Wundheilung oder als belebende, bewusstseinsverändernde oder berauschende Drogen eingesetzt werden können, ist sehr alt, vermutlich viel älter als der Ackerbau.
Und es gibt noch einen weiteren Aspekt der hilfreichen Pflanzen: Schon Leonardo Da Vinci nahm die Flugfrucht des Wiesen-Bocksbarts als Vorbild für eine Fallschirm-Konstruktion, nach Vorbildern des Zanonia-Samens bauten Etrich und Wels Gleitfliegermodelle und selbstreinigende Oberflächen nach dem „Lotus-Effekt“ verdanken wir dem pflanzlichen Vorbild.

In dem geplanten Unterricht Biologie Heft soll die Bedeutung der Pflanzen als Heilmittel und Drogen im Vordergrund stehen. Aber auch ihre Vorbildfunktion für technische Konstruktionen soll Berücksichtigung finden.

Abb1-PflanzennutzungZur Geschichte der Heilpflanzenkunde

Die Nutzung von Pflanzen und Pflanzenteilen für die Heilung von Verletzungen und Krankheiten ist eine uralte medizinische Technik. Zunächst vor allem in den Händen von Medizinmännern und Schamanen versuchte man schon in den ältesten Hochkulturen eine systematische Erfassung der Heilpflanzen. In dem 1700 v. Chr. erstellten Kodex Hammurabi des mesopotamischen Königs werden Anwendungen und Anbau von Heilpflanzen beschrieben. In einer 1600 v. Chr. Verfassten Papyrusrolle aus Theben, in der das medizinische Wissen der alten Ägypter umfangreich dargestellt wird, werden 700 Heilpflanzen erwähnt. War die Heilkunde bei Ägyptern und Babyloniern noch ein Teil der Religion, so hat Hippokrates in 5. Jahrhundert v. Chr. im klassischen Griechenland die Grundlagen für die wissenschaftliche Medizin und Pharmazie gelegt. Bis in die Neuzeit galt das Werk Dioscurids, eines griechischen Arztes, der zur Zeit Neros in Rom lebte, „De materia medica“ mit der Beschreibung und Anwendungserklärung von mehr als 500 Heilpflanzen und Drogen als Grundlage der Medizin. Galenus, der Hofarzt von Marc Aurel, hat systematisch Heilkräuter zu Arzneimitteln verarbeitet („Galenik“) und gilt als „Vater der Pharmazie“. Im Mittelalter waren die Araber die Bewahrer der medizinischen Kenntnisse, in Europa wären Albertus Magnus und Hildegard von Bingen zu nennen. Im übrigen geriet die Heilkunde stark in die Anhängigkeit religiöser Vorstellungen (Signaturenlehre!). Im 16. Jahrhundert bemühten sich Leonhard Fuchs, Hieronymus Bock und Otto Brunfels mit ihren neuen „Kräuterbüchern“, dem antiken Wissen durch nach der Natur gezeichneten Illustrationen und Einarbeitung volkskundlichen Wissens Neues hinzuzufügen. Sie gelten deshalb als Begründer der Botanik als eigenständiger Wissenschaft („Väter der Botanik“).

Entdeckung und Isolation der pflanzlichen Inhaltsstoffe
Im 19 Jahrhundert gelang es erstmals, reine Wirkstoffe aus Pflanzen zu isolieren (1803/1804 F. W. A. Sertüner: Morphin aus Opium des Schlaf-Mohns; 1820 Pierre-Joseph Pelletier u. François Magendie: Chinin aus der Chinarinde). Auf Pelletier geht die industrielle Chininproduktion zurück. Nachdem man die reinen Stoffe, die wichtigsten „Wirkprinzipien“ kannte, nahm die Wertschätzung der Heilpflanzen ab, Pflanzenheilkundige verloren zunehmend an Reputation, wurden zu Kräuterweiblein und Wurzelsepp.

Synthetische Herstellung von Wirkstoffen
Ende des 19. Anfang des 20. Jahrhunderts begann man mit der chemischen Synthese von Wirkstoffen. Noch zu Beginn des 20. JH wurden fast alle Medikamente aus pflanzlichen Rohstoffen gewonnen, heute sind es weniger als 40%.

Pflanzliche Inhaltsstoffe in der modernen Medizin
Die Fortschritte und Möglichkeiten der modernen Medizin sind gewaltig. Dies gilt auch für den Einsatz von Medikamenten, die immer passgenauer auf bestimmte Fehlfunktionen des Organismus abgestimmt werden können. Doch trotz „Apparatemedizin“ und Tablettendesign erfreuen sich Heilpflanzen und Drogen auf Pflanzenbasis nach wie vor großer Beliebtheit. Dies mag einmal mit der menschlichen Wundergläubigkeit zusammenhängen, zum anderen aber auch mit der tatsächlichen Heilwirkung solcher Drogen, die teilweise auf Jahrtausende alter Empirie beruht.
In Deutschland beruhen noch etwa die Hälfte aller Medikamente auf pflanzlichen Wirkstoffen, weltweit sind aber erst ein Prozent aller Pflanzen auf ihre Inhaltsstoffe untersucht worden. Man schätzt, dass derzeit zwischen 10.000 und 50.000 Pflanzenarten weltweit als (traditionelle) Heilpflanzen genutzt werden. Lange Zeit scheuten Pharmaunternehmen deshalb den Aufwand einer systematischen Suche nach wirkungsvollen Medikamenten aus Pflanzen, doch die Suchprogramme sind kostengünstiger geworden und über Genanalysen lassen sich Erfolg versprechende Pflanzen über bereits bekannte Drogenlieferanten leichter finden. Deshalb wird weltweites Heilpflanzenscreening immer Erfolg versprechender (Problem: Verletzung der Rechte indigener Völker) – http://heilpflanzen-info.ch/cms/blog/archive/tag/screening

In der Heilpflanzenkunde (Phytopharmakognosie) unterscheidet man folgende Begriffe:

  •  eine Heilpflanze ist eine Pflanze, die für medizinische Zwecke verwendet werden kann
  •  eine Pflanzliche Droge ist eine Arznei aus rohen oder zubereiteten Pflanzenteilen
  •  ein Phytopharmakon ist ein Arzneimittel, das aus einer Heilpflanze gewonnen wird
  •  ein Phytogener Arzneistoff ist ein Stoff als medizinisch wirksame Substanz einer Heilpflanze (Wikipedia)

Pflanzliche Wirkstoffe

Fast alle pflanzlichen Wirkstoffe gehören zu den so genannten „sekundären Pflanzenstoffen“, also solchen Stoffen, die von Pflanzen weder im Energiestoffwechsel noch im Baustoffwechsel erzeugt werden. Oft werden sie in speziellen Zelltypen hergestellt. Im Unterschied zu den primären Pflanzenstoffen nahm man zunächst an, dass sie für die Pflanzen nicht unmittelbar lebensnotwendig sind. Heute weiß man jedoch, dass sie vielfach lebensnotwendige Funktionen bei der Abwehr von Fraßfeinden und Infektionen sowie bei der inter- und intraspezifischen Signalübertragung haben. .

Roter Fingerhut (Digitalis purpurea)

Roter Fingerhut (Digitalis purpurea)

  • Glykoside ermöglichen es den Pflanzen, Giftstoffe in nicht giftiger Form zu speichern, indem sie diese an einen Zuckerrest binden. Sie können in einem Zellkompartiment, zum Beispiel in der Vakuole, gespeichert werden. Erst wenn die Zelle zerstört wird, kommt das Glykosid mit der entsprechenden Glykosidase in Verbindung und der giftige Stoff wird von dem Zuckerrest abgespalten. Herzglykoside wirken kontraktionsfördernd (inotrop) auf den Herzmuskel. Hierzu zählt man etwa 300 Substanzen, deren Zuckerkomponente (Glycon) drei relativ seltene Desoxizucker und deren Aglycon ein Steroidalkohol sind. Klinische Bedeutung haben heute noch Digoxin und Digitoxin (Fingerhut-Glykoside). Nach ihrem chemischen Aufbau unterscheidet man zum Beispiel: Phenolglykoside, Cumaringlykoside, Anthocyanglykoside, Senfölglykoside, Iridoidglykoside usw.

 

Etherisch Öle

Etherisch Öle

  • Etherische Öle sind fettlösliche, leicht flüchtige Substanzen, chemisch meist Mono- und Sesquiterpene. Den Pflanzen helfen sie, Fressfeinde, Schädlinge und Krank-heitserreger fernzuhalten, aber auch Bestäuber anzulocken. Häufig wirken sie schleimlösend, krampflösend, anregend oder antimikrobiell und entzündungs-hemmend. Meist gewinnt man sie mithilfe von Wasserdampfdestillation aus Pflanzenmaterial.

 

Alkaloide (aus arab. „al qalya = Pflanzenasche) sind N-haltige organische Verbindungen des pflanzlichen Sekundärstoffwechsels, die auf den tierlichen und menschlichen Organismus, meistens auf das Nervensystem, wirken. Die Einteilung der mehr als 10 000 bekannten Alkaloide kann chemisch (nach dem N-haltigen Molekülteil), nach der Herkunft (Pflanzenart, Droge), nach der Biogenese (chemischer Ausgangsstoff) oder nach der pharmakologischen Wirkung (Betäubung, Halluzinogen) erfolgen. Beispiele: Nicotin, Coffein, Kokain, Meskalin, Tyrosin, Colchizin, Morphin, Codein, Strychnin, Aconitin. – Viele Vertreter der Familie der Nachtschattengewächse (Solanaceae) enthalten Alkaloide.

Die Betalaine sind in Zellvakuolen vorkommende gelbe (Betaxanthine) oder rote bis rotviolette (Betacyane) Farbstoffe. Hierher gehört der Farbstoff der Roten Bete, das Betanidin.

 

Wermut (Artemisia absinthium)

Wermut (Artemisia absinthium)

  • Bitterstoffe nennt man alle chemischen Verbindungen, die bitter schmecken. In der Regel regen sie die Magen- und Gallensaftproduktion an und wirken dadurch appetitanregend und verdauungsfördernd. Unter den Bitterstoffen findet man auch Alkaloide und Isoprenoide. Den Pflanzen dienen sie vermutlich als Fraßschutz, und sie sind weit verbreitet. Bei kultivierten Gemüse- und Obstpflanzen wurde der Bitterstoffgehalt häufig durch Züchtung vermindert (Beispiel: Kopfsalat).
  • Beispiele: Chinin aus der Rinde des Chinarindenbaumes gegen Magen-Darm-Beschwerden, psychoaktive Substanzen wie Coffein,Theobromin können die Blut-Hirnschranke überwinden und damit besonders schnell wirken.

 

  • Anthracenderivate lassen sich chemisch formal vom Anthracen ableiten. Sie wirken abführend. Wichtige Lieferanten sind zum Beispiel Aloe, Faulbaum, Senna und Arznei-Rhabarber.
  • Schleimstoffe sind Biopolymere, die bei pflanzlicher Herkunft vorwiegend aus Polysacchariden bestehen. Sie können einen großen Anteil an Wasser aufnehmen und dadurch schleimartige Kolloide bilden. Wichtige pflanzliche Schleimstofflieferanten sind: Echter Eibisch, Huflattich, Leinsamen, Wilde Malve, Spitz-Wegerich.
  • Hormonartige Stoffe aus Pflanzen, zu denen z. B. Lignane und Isoflavone gehören, besitzen strukturelle Ähnlichkeit zu menschlichen bzw. tierlichen Hormonen. Die Entdeckung der Phytoöstrogene Genistein und Formononetin geht auf westaustralische Schafzüchter zurück, die in den 1950iger Jahren eine unerklärliche Unfruchtbarkeit bei ihren Schafen beobachteten. Zehn Jahre später wurden die Stoffe in Weidepflanzen (Schmetterlingsblütler) entdeckt. Diosgenin aus der Yamswurzel hat eine ähnliche Struktur wie Steroidhormone und lässt sich – ähnlich wie Sarmentogenin aus Strophanthus – für die kommerzielle Synthese von Cortisonpräparaten nutzen.
  •  Zu Flavonoiden gehören viele Farbstoffe in Blüten und Früchten, z. B. auch die Anthocyanidine vieler roter oder blauer Beeren. Sie lassen sich formal von dem Grundstoff Flavan (2-Phenylchroman) ableiten. Medizinisch und für die menschliche Gesundheit von besonderer Bedeutung ist ihre antioxidative Wirkung. Weiterhin begründet man ihre Heilwirkung auf die Interaktion mit DNA und Enzymen, die Aktivierung von Zellen, die Beeinflussung verschiedener Signaltransduktionswege in den Zellen, die Aktivierung des Immunsystems und die Verhinderung von Arteriosklerose.
  • Tannine sind pflanzliche Gerbstoffe, mit denen sich verschiedene nährstoffreiche Pflanzen vor dem Gefressenwerden schützen. Sie hemmen den Stärkeabbau und damit die Resorption von Zucker. Dies ist für Herbivoren von Nachteil, kann aber medizinisch genutzt werden. Reichlich sind sie in Holz und Rinde verschiedener Laubbäume enthalten (Eichen, Birken). Auch Rotwein und Schwarzer Tee sind reich an Tanninen. In der Medizin werden Tannine als blutstillendes und entzündungshemmende Mittel verwendet. Der Name „Gerbstoff“ weist auf ihre Bedeutung bei der Lederverarbeitung hin.

Bemerkenswerte Heilpflanzen und Drogen und ihre Geschichte

Schon früh war es ein erstrebenswertes Ziel der Heilkundigen, ein Arzneimittel zu finden, das möglichst universell eingesetzt werden kann, ein Allheilmittel. Als solche Wunderdrogen galten den unterschiedlichen Kulturkreisen zum Beispiel Ginseng, Mandragora, Salbei und Mistel.

Mistel (Viscum album)

Mistel (Viscum album)

 

Aber auch die Idee, ein gegen alle Leiden wirkendes Wundermittel aus möglichst vielen verschiedenen Ingredienzien zusammenzustellen, wurde schon früh verfolgt (Theriak, Mithridat).

 

 

In der Folge der Kolonialisierung weiterTeile der Erde durch europäische Völker wurden immer wieder neue Heil pflanzen entdeckt, zum Beispiel:

  • Chinarindenbaum (Cinchona) mit dem in der Rinde enthaltenen Wirkstoff Chinin gegen Malaria
  • Kampferbaum (Cinnamomum camphora)
  • Einjähriger Beifuß (Artemisia annua, Artemisinin gegen Malaria)
  • Madagassisches Immergrün (Cantharanthus roseus; mit Vincristin und Vinblastin, Cytostatika in der Krebstherapie)
  • Strophanthus und sein Inhaltsstoff Strophanthin (als Pfeilgift in Afrika entdeckt; Herzundinsuffizienz, Rhythmus-Anomalien, akute Myokardschäden)
  • Schmerwurz-Arten (Dioscorea spp.) aus denen man Steroidhormone wie Cortison und Testosteron herstellen kann.
  • Yohimbin aus dem afrikanischen Yohimbe-Baum als Aphrodisiakum und Potenz steigerndes Mittel
  • Teebaumöle aus Melaleuca qalternifolia, Leptospermum scoparium und anderen südhemisphärischen Myrtengewächsen. Die große Anzahl enthaltener etherischer Öle ( v. a. Mono- und Sesquiterpene) wirken bakterizid und bakteriostatisch.
  • Meerrettichbaum („Moringo“, Moringa oleifera u. a. Arten. Mit 1 g zermahlenen Samen kann man 5 L verunreinigtes Wasser trinkbar machen, Wirkprinzip: koagulierende Wirkung einiger Inhaltsstoffe bringt Schwebstoffe einschließlich Bakterien zum Absinken, auch bakterizide Wirkungen sind nachgewiesen.

 

Bewusstseinsverändernde pflanzliche Drogen („Pflanzen der Götter“)

Die Wirkung bestimmter pflanzlicher Inhaltsstoffe auf das vegetative Nervensystem haben sicherlich schon die Urmenschen erfahren und genutzt, ja sogar bei Tieren kann man beobachten, dass sie gezielt überreife alkoholhaltige Früchte zu sich nehmen, um sich zu berauschen. Die Beobachtungen an verschiedenen indigenen Völkern legen nahe, dass die Verwendung von Rauschdrogen zunächst vor allem mit religiösen Riten („Pflanzen der Götter“) verbunden war.

Eine sehr alte Tradition haben Räucherdrogen. Der Weihrauch ist heute noch eng mit Zeremonien und Kulten religiöser Art verbunden. Interessant in diesem Zusammenhang ist auch die Etymologie des Wortes Rauch (Geruch, Gerücht, verrucht, Rausch…).

Einige Beispiele für Pflanzen mit bewusstseinsverändernden bzw. bewusstseinserweiternden Inhaltsstoffen: Schlafmohn (Papaver somniferum)- Opium, Morphin, Diacetylmorphin (=Heroin); Peyotl-Kaktus (Lophophora williamsii) – Phenylethylamin Meskalin; Tollkirsche (Atropa belladonna), Bilsenkraut (Hyoscyamus niger) und Alraune (Mandragora officinarum) als Hauptzutaten von Hexensalben, Hyoscyamin, Atropin, Scopolamin; Datura und Brugmansia – Tropanalkaloide; Hanf (Cannabis sativa)- Haschisch, Marihuana, Cannabinoide, v. a. THC; Iboga (Tabernanthe iboga) – Indolalkaloide; Yopo (Anadenanthera peregrina) – Tryptaminderivate; Ayahuasca (Liane Banisteriopsis caapi) – Harmin-Alkaloide; Samen der Prunkwinde Ipomea tricolor – Lysergsäure-Alkaloide; Ebená (Virola spp.) – Dimethyltryptamin u. a. Indolderivate.

Wissen, Glauben, Aberglauben – ist „rein pflanzlich“ immer gut?

Offensichtlich ist auch heute die Meinung noch sehr verbreitet, dass Medikamente auf „rein pflanzlicher“ Basis weniger gefährlich seien als Elaborate der Chemieindustrie, weshalb damit erfolgreich Arzneimittelwerbung gemacht werden kann. Doch schon Sokrates wusste es besser. Dass Pflanzen, auch altbewährte Heilpflanzen wie Fingerhut und Tollkirsche – sehr giftig sein können, führt diesen Glauben ad absurdum.
Doch auch wenn sehr viele pflanzliche Inhaltsstoffe mehr oder weniger giftig für den menschlichen Körper sind, ist die gesundheitsfördernde Wirkung vieler „Kräuter“ nicht nur volkstümlicher Aberglaube, sondern empirisch gesicherte und heute vielfach naturwissenschaftlich erklärbare Tatsache. Es ist deshalb durchaus sinnvoll, diese Wirkungen aus dem Kräutergarten zu nutzen, bevor man zum Arzt oder in die Apotheke rennt. Außerdem sind viele Kräuter (in Maßen genossen) nicht nur gesund, sie tragen auch wesentlich zum Wohlgeschmack von Speisen bei.

Ein weiterer wichtiger Gesichtspunkt: Heilpflanzen enthalten fast immer ein Gemisch aus sehr vielen verschiedenen mehr oder weniger wirksamen Substanzen, deren besondere Wirksamkeit eben in dieser Kombination liegt. Dadurch können sie einem auf einer oder nur wenigen Inhaltsstoffen aufgebauten synthetisch produzierten Droge durchaus überlegen sein, gerade auch, was schädliche Nebenwirkungen anbetrifft.

Pflanzen als Vorbilder

Der Aufbau von Sprossachsen kann Vorbild für technische Konstruktionen sein

Der Aufbau von Sprossachsen kann Vorbild für technische Konstruktionen sein

Auf die Vorbildfunktion fliegender Samen und Früchte wurde schon in der Einleitung hingewiesen. Heute ist die Bionik anerkannte zwischen Biologie und Technik angesiedelte Wissenschaft , in der es darum geht, Konstruktionsprinzipien und Verfahrenstechniken der Natur zu nutzen. Lebewesen dienen als Vorbilder für technische Entwicklungen, sie sind aber nicht – wie in der Biotechnologie – in die Herstellung von Produkten eingebunden.
Es gibt mittlerweile viele gelungene Projekte, sei dies im Bau ultraleichter Tragekonstruktionen, stabiler Verbundkonstruktionen, gewichtssparender Seilkonstruktionen oder sich selbst reparierender Membranen.
Seit einigen Jahren werden in verschiedenen Botanischen Gärten Führungen mit Demonstrationsversuchen und einfachen Experimenten zum Thema Bionik angeboten. Das große Interesse an solchen Veranstaltungen beweist, dass Pflanzen als Vorbilder für technische Konstruktionen ein motivierendes Thema für den Biologieunterricht sein können.
(vgl. Speck, T./Speck, O. (2008): Bionik: Interdisziplinäre Forschung und Bildung in Botanischen Gärten. Osnabrücker Naturwissenschaftliche Mitteilungen Bd.33/34: 155-173)

Helfende Pflanzen motivieren

Die Bärwurz (Meum athamanticum) riechen und schmecken, auf einer Bergwiese im Harz. Bärwurz wird als Zusatz für Kräuterlikör und Kräuterquark verwendet, früher auch als vielseitig wirksame Heilpflanze

Die Bärwurz (Meum athamanticum) riechen und schmecken, auf einer Bergwiese im Harz. Bärwurz wird als Zusatz für Kräuterlikör und Kräuterquark verwendet, früher auch als vielseitig wirksame Heilpflanze

„Die Heilpflanzenkunde ist ein Wissenschaftszweig, der geobotanische, pharmakologische, phytochemische, humanbiologisch und biochemische Aspekte mit der Therapeutik vereint. “ (Wikipedia). Dieser übergreifende Charakter und die starke emotionale Wirkungen, die von Heilpflanzen auch heute noch ausgehen, können didaktisch genutzt werden, nicht nur, um zum Thema selbst (einschließlich Glauben und Irrglauben, Mythen und Märchen, kausalen Zusammenhängen und Spekulationen) Informationen zu liefern, sondern auch um das Interesse an Heilpflanzen als Einstieg in unterschiedliche biologische bzw. naturwissenschaftliche Fachthemen zu nutzen.

Ergänzende Materialien

Die Wirkung von Strophanthin (Ouabain)

Das Herzglykosid g-Strophanthin oder Ouabain kommt in den Samen verschiedener afrikanischer Lianen der Gattung Strophanthus, z. B. S. gratus (daher g-Strophanthin, k-Str. von S. kombe) vor. In Westafrika spielten sie traditionell als Pfeilgifte eine Rolle. Ihre Wirkung bei Herzschwäche wurde von dem Botaniker John während der Livingstone-Expedition 1859 zufällig entdeckt.

Wie bei den Digitalis-Glykosiden ist die wichtigste Wirkung die Hemmung der Na+-K+-Pumpe (Na+-K+-ATPase) in den Herzmuskelzellen. Dadurch erhöht sich die Na+-Konzentration in den Muskelzellen was wiederum bewirkt, dass das der Na+/Ca2+-Austauscher, ebenfalls ein Transmembranprotein in denselben Muskelzellen, mehr Ca2+ in die Muskelzellen transportiert, was zu einer Steigerung der Kontraktionskraft führt. Eine ähnliche Wirkung kann eventuell auch über die Arterienmuskulatur zu einer Erhöhung des Blutdrucks führen.

Diese Sachverhalte werden jedoch dadurch komplizierter, dass die Herzglykoside auch in unterschiedlicher Weise auf die körpereigene Freisetzung von gerfäßverengend wirkendem Endothelin und gefäßerweiternden NO Einfluss nehmen können.

Die Frage, ob Ouabain auch als körpereigenes Hormon in der Nebennierenrinde produziert und in den Blutkreislauf eingespeist wird, ist bis heute nicht eindeutig geklärt.

Bei hohen Ouabain-Werten im Blut wird ein Teil über die Niere ausgeschieden, ein Teil durch Bindung an Blutglobuline neutralisiert.

Im Gegensatz zu den Digitalis-Glykosiden Digitoxin und Digoin ist Strophanthin wasserlöslich. Es wird deshalb über das Verdauungssystem nur sehr schlecht aufgenommen. Deshalb wird bei akuter Herzinsuffiziens eine intravenöse Behandlung bevorzugt.

Wirkung von Strophanthin

Wirkung von Strophanthin

Allerdings werden Herzglykoside heute wegen der schwer vorhersehbaren (Neben-)wirkungen von den meisten Ärzten nicht mehr als die Mittel der ersten Wahl angesehen. Dies hängt vor allem damit zusammen, dass die Konzentration des Glykosids im Blut von verschiedenen nicht sicher beeinflussbaren Faktoren abhängt. Doch herrscht in dieser Hinsicht – wie man bei einer Internetrecherche leicht feststellen kann – bei der Ärzteschaft keineswegs Einigkeit.

http://www.strophantus.de/mediapool/59/596780/data/Yatin_Shah.pdf

http://news.doccheck.com/de/1533/strophanthin-gut-oder-alter-hut/?utm_source=DocCheck&utm_medium=DC%2BWeiterfuehrende%20Inhalte&utm_campaign=DC%2BWeiterfuehrende%20Inhalte%20flexikon.doccheck.com

(mit vielen Kommentaren)

http://www.melhorn.de/Strophhormon/

(starker Befürworter des g-Strophanthineinsatzes)

Möglicher Einsatz des Knoblauch-Inhaltsstoffes Alliin gegen Krebs

  1. Das Enzym Alliinase wird an einen Krebszellenspezifischen Antikörper gebunden und damit werden die Krebszellen markiert.Knoblauchwirkung
  2. Spritzt man nun Alliin, so wird dies von der Alliinase an den Krebszellen in das Zellgift Allicin umgewandelt. Es dringt in die Krebszellen ein und tötet sie. Da es schnell abgebaut wird, kann es sich nicht weiter im Organismus verbreiten.Knoblauchwirkung2

https://de.wikipedia.org/wiki/Allicin#Pharmakologie

 

Gärten für die Zukunft

Vortrag anlässlich der Präsentation der Chronik über das Schulbiologiezentrum Hannover am 4. November 2012

Meine Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde des Schulbiologiezentrums Hannover,

ich freue mich, dass ich heute zu diesem festlichen Anlass, der Präsentation einer Chronik des Schulbiologiezentrum Hannover, zu ihnen sprechen darf. Herzlichen Dank, Herr Noack und Herr Reese, für die Einladung. Bei meiner Frau bedanke ich mich sehr für die Begleitung, ohne die ich diese Reise nicht hätte unternehmen können.

 Zwei besondere Gründe für meine Freude möchte ich nennen:

  • Seit ich das Schulbiologiezentrum Hannover  Ende der 1970 er Jahren kennen lernte, schätze ich diese Einrichtung sehr und die umfangreichen Publikationen von dort haben mir viele Anregungen und Impulse für meine Arbeit in Flensburg gegeben.
  • Gerhard Winkel, der in den Jahren 1961-1988 das Schulbiologiezentrum Hannover geleitet und zu seiner heutigen Form und Bedeutung gebracht hat, wurde am 29. Juni 1994 die Ehrendoktorwürde der Universität Flensburg verliehen. Nach Rudolf Karnick war er der zweite Ehrendoktor unserer Universität.

Mein Kollege und Freund Willfried Janßen sagte dazu in seiner Laudatio zu Winkels Ehrenpromotion: „Allein diese Leistung (nämlich der Aufbau des Schulbiologiezentrum) und ihre enorme Vorbildwirkung für zahlreiche im Zuge der Ökologiebewegung im Laufe der achtziger Jahre entstandenen Umweltzentren in Europa würde den Vorschlag zu Ehren Promotion rechtfertigen, da eine solche Entwicklung nicht nur mit organisatorischen Fähigkeiten und mit Energie verbunden war, sondern vor allem erfolgreich sein konnte, weil von Gerhard Winkel  … zugleich klar durchdachte pädagogische und biologiedidaktische Konzepte für dessen Wirksamkeit entwickelt wurden.“ So ist es.

 Das Schulbiologiezentrum Hannover ist aus zwei botanischen Schulgärten hervorgegangen und wie die heute vorgestellte Dokumentation beweist: Die Gartenpraxis als pädagogische Möglichkeit ist nach wie vor sein wichtigster Schwerpunkt.  Deshalb habe ich mir vorgenommen, Ihnen einige Überlegungen zum zukünftigen Umgang mit Gärten und zur Bedeutung der Gärten für die Zukunft  vorzutragen. Mir ist klar, dass dazu schon viel gesagt und geschrieben wurde –  zum Beispiel – natürlich –  von Gerhard Winkel, und erst vor kurzem, auf dem im Juni 2011 von der Deutschen Gartenbaugesellschaft und dem Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz organisierten Kongress „Zukunft Garten – Bedeutung für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft“.

Dabei gab es einen Workshop „Bildung, Erziehung, Nachwuchsarbeit im Garten“, der zu folgenden publizierten Ergebnissen kam:

  • Der (Schul-)Garten ist ein idealer Lern-und Lebensort für alle

Aufgrund dieser Aussage wird gefordert

  • Der Garten braucht gesamtgesellschaftliche Akzeptanz, die Akteure brauchen politische Unterstützung im Kontext einer Bildung für nachhaltige Entwicklung
  • Die Gartenarbeit braucht eine gute curriculare Verankerung im Bildungssystem einschließlich Lehrer- und Erzieherausbildung, Fort-  und Weiterbildung

Wer  der hier Anwesenden wollte dem widersprechen? Allein, um alle zu überzeugen, bedarf es guter Argumente. Ich hoffe, ich wiederhole nicht nur Altbekanntes, wenn ich im Folgenden einige auf meinen persönlichen Erfahrungen gründende Überlegungen dazu  anstelle, unter welchen Bedingungen Lernen im Garten tatsächlich Bildung für nachhaltige Entwicklung sein könnte.

Ich möchte dies in vier Schritten tun:

1. Weltwunder, Naturoase, Lernort – Blitzlichter zur Gartengeschichte

2. Sind Gärtner bessere Menschen?

3. Persönliche Erfahrungen – mein Weg zur Veranstaltung „Ökologischer Gartenbau“

4. Die Erde als Garten

1. Weltwunder, Naturoase, Lernort – Blitzlichter zur Gartengeschichte

 Vor 2600 Jahren in Mesopotamien

So könnten die hängenden Gärten in Babylon ausgesehen haben

So könnten die hängenden Gärten in Babylon ausgesehen haben

Das antike Babylon liegt in einem auch im Winter angenehm warmen Klima. Der strahlend blaue Himmel hat zwar den Nachteil, dass es nur wenig regnet und damit von Natur aus nur ein spärlicher Pflanzenwuchs möglich ist, doch der nahe Euphrat gepaart mit einer ausgeklügelten Bewässerungstechnik lässt nicht nur Getreidefelder sprießen sondern auch prächtig Gartenanlagen gedeihen . Schon in der Antike legendär sind die „Hängenden Gärten von Babylon“. Ihr Ruf verbreitete sich in der ganzen antiken Welt – neben dem Koloss von Rhodos, den Pyramiden von Gizeh oder dem Leuchtturm von Alexandria – gelten sie als eines der sieben Weltwunder. Zwar sind die Gärten schon im Altertum zu Grunde gegangen, doch ihr Ruf hat sich bis in die Gegenwart erhalten. Von Xenophon wurden die von Babylon übernommenen Gärten der Perser später als „Paradeisos“ beschrieben. Diese Bezeichnung geht auf das altpersische „paira  daëza“ zurück und bedeutet „umhegter Garten“. Die Gärten des Vorderen Orients – vermutlich die ursprünglichsten und ersten Gärten in der Menschheitsgeschichte – nahmen sich in wüstenhafter Umgebung die wasserreiche Oase zum Vorbild. Im Schatten von Dattelpalmen und Sykomoren kann der Müßiggänger, umgeben von säuselnden  Winden und plätschernden Bächen  einen Vorgeschmack auf das himmlische Paradies erleben. Diese Vorstellung des Gartens als Paradies, also als ein Ideal einer vollkommenen Welt, ist sicher noch älter als die Gärten der Semiramis. Oasengärten in unwirtlicher Wüstenlandschaft: Nicht nur Erinnerungen an einen paradiesischen Urzustand, sondern auch Vorahnung eines glücklichen Endzustandes, eines goldenen Zeitalters, wie es von Hesiod oder Ovid beschrieben wurde.

Griechen und v. a. Römer übernahmen Teile der orientalischen Gartenkultur, bei der Machtübernahme durch germanische Stämme ging vieles verloren, aber über die Klöster  kamen Gartenkenntnisse nach Mitteleuropa, z. B. über Winifried Strabo auf der Reichenau. Doch nun stand der Nutzgarten im Vordergrund.  Erst als in der Renaissance durch den Kontakt mit den Arabern als kulturellen Bewahrern der antiken Welt Kunst und Wissenschaften des Abendlandes neu belebt wurden, gab es eine Blüte der Gartenkultur in Europa.

Vor 300 Jahren in Versaille

Einen ersten Höhepunkt erreicht diese Gartenkultur im Barock. Dem Zeitalter des Rationalismus entsprechend ist der Barockgarten ein ganz und gar künstliches, durch den Menschen geschaffenes Gebilde. Bei der Planung wird höchster Wert auf Regelmäßigkeit und Symmetrie gelegt. Die ornamentalen, nach strengen Regeln in Formen und Strukturen gezwungenen Anlagen sind exakt durchorganisiert und stellen einen krassen Gegensatz zu wilden und chaotischen Natur dar. Sie sind Symbol für die Kraft des menschlichen Geistes und seines Erfindungsreichtums, der sich die Natur untertan machen kann (und auch machen soll), auch prunkvolle Machtdemonstration des absolutistischen Herrschers, in dessen Auftrag der Garten angelegt wurde. Oft werden diese Gärten angereichert mit exotischen Gewächsen, die aus den gerade erst entdeckten und unterworfenen Kolonien eingeführt wurden. In einem gut gepflegten Barockgarten bleibt nichts dem Zufall überlassen.

Vor 200 Jahren in Wiltshire in SW-England (Stourhead Garden)

In der Romantik wird die Gartengestaltung urwüchsiger. Der Landschaftsgarten idealisiert eine ländliche Idylle mit wohl dosierten Einsprengseln künstlich nachgebildeter wilder Natur: Waldschluchten, Wasserfälle, Grotten ja sogar kleine Felsengebirge, die noch romantischer sind als die wirkliche Natur. Anders als im Barockgarten wird von diesem Gartentyp mehr das Gemüt als der Geist angesprochen, Bilder von Landschaften, gewissermaßen Archetypen, die wir in unserem Inneren tragen. Es gibt mehrere Untersuchungen aus den 1970iger und 80iger Jahren , die von E. O. Wilson bekannt gemacht wurden und die darauf hindeuten, dass eine offene Savannenlandschaft mit guter Aussicht und der Nähe eines Gewässers aufgrund genetischer Disposition von Menschen als besonders angenehm empfunden wird. Der englische Landschaftsgarten entspricht weit gehend den Aspekten einer solchen „offenen Weidelandschaft“. Bis heute entsprechen auch die beliebtesten und teuersten Wohnlagen diesem Idealtypus. Eine mögliche Erklärung für diese angeborene Vorliebe wäre, dass in einer solchen afrikanischen Savanne die Menschenvorfahren einige Millionen Jahren lang zuhause waren (Wilson 1984).

Vor 40  Jahren im Aargau in der Schweiz

Der Begriff  „Naturgarten“  trat zwar schon Ende des 18. JH zusammen mit dem Landschaftsgarten auf, aber erst ab den 1970iger Jahren spielt er – als Idee eines privaten Naturschutzgebietes –  eine größere Rolle in der Umwelt- und Naturschutzbewegung. Während früher der paradiesische Zustand gerade die gezähmte, veränderte, mehr oder weniger stark manipulierte Natur war, ein gepflegter Hort in der Wildnis, ist nun Wildnis so selten geworden, dass der Naturgärtner versucht, in der Kulturlandschaft ein Stückchen Wildnis als sein Paradies zu erhalten (vgl. z. B. Witt 1996: Naturoase Wildgarten). Programmatisches Werk aus den 1970 er Jahren ist „Der Naturgarten“ von Urs Schwarz, in dem gefordert wird Einheimische „Unkräuter“ zu Kräutern und fremdländische Gewächse zu Unkräutern zu deklarieren und entsprechend zu behandeln.

Louis Le Roy plädiert in seinem Werk „Natur einschalten – Natur ausschalten“ dafür: „Lasst es wachsen“ . Er schlägt einen völlig neuen Umgang mit dem „Grün in der Stadt“ vor: Spontane Vegetation soll geplante Pflanzungen und Beete ersetzen, der Gartengestalter pflanzt nicht, er schafft allenfalls günstige Voraussetzungen für selbst sich entwickelnde Vielfalt : durch Bauschutthaufen, Lehmkuhlen, Kiesschüttungen, Natursteinmauern und Reisigstapel. Der avantgardistische Landschaftsarchitekt erhielt in der niederländischen Stadt Heerenveen die Möglichkeit, seine Ideen in die Tat umzusetzen. Aber nur verhältnismäßig wenige Gemeindeverwaltungen und private Gartenbesitzer folgten den radikalen Forderungen der Natur-Garten-Revolutionäre.

Dass diese Sehnsucht nach dem eigenen kleinen Naturschutzgebiet trotzdem bis heute weiter verbreitet ist, als wirklich naturnah gestaltete Gartenanlagen, kann man zum Beispiel daran erkennen, dass sehr viele Gartenbesitzer wenigstens ein Biotop (gemeint ist damit ein der ursprünglichen Natur nachempfundener Lebensraum, meist ein Teich) in ihren Garten bringen wollen. Wildtiere versuchte man schon früher in den Garten zu locken, zum Beispiel in den Schrebergarten mit Starenkästen. Heute gibt es viele Bauanleitungen und Angebote fertiger Behausungen, mit denen man nicht nur verschiedene Vogel- und Fledermausarten, Igel, Kröten, Blindschleichen oder Eidechsen , sondern auch Wirbellose wie Wildbienen, Florfliegen, Ohrkneifer und Spinnen in seinen Garten holen und dauerhaft ansiedeln kann. In Gerhard Winkels Schulgartenhandbuch wird schon 1985 beschrieben, wie man solche „Wohnräume für Tiere“ an einem Platz, einer so genannten Gartenarche, konzentrieren kann .

Fazit: Immer haben Gärten etwas mit dem Weltbild, den Sehnsüchten und Projektionen des Kulturkreises zu tun, dem sie entstammen und oft werden sie – wie auch schon die ersten Gärten in Ägypten, Babylon, Indien oder Persien – als Abbild eines glücklichen bzw. geglückten Weltplanes verstanden.

Welche Gartenkonzepte könnten in der Zukunft wichtig werden?

Welche Ziele, welche Vorstellungen, welche gesellschaftlichen Bedingungen könnten für Gartenkonzepte der Zukunft wichtig werden?

  • In unserer Gesellschaft wird der Anteil älterer Menschen immer größer – wird man deshalb bei öffentlicher und privater Gartengestaltung besonders auf Altersgerechtigkeit achten?
  • Junge Leute interessieren sich immer weniger für reine Naturlandschaften, Parkanlagen, Gartenschauen – wird öffentliches und privates Grün deshalb immer mehr mit (möglichst interaktiven) Kunstobjekten angereichert? Oder werden Gärten vermehrt Hintergrund großer Veranstaltungen (Events)?
  • Immer mehr Menschen vermissen echte Abenteuer – wird deshalb bei der Landschaftsplanung immer mehr darauf geachtet werden, Orte einzurichten, an denen solche Abenteuer möglich werden (Kletterfelsen, Baumkletterstrecken, Wildwasserbäche, Hochbrücken zum Bungee-Jumping…)?
  • Wird man – um dieser Entwicklung entgegen zu wirken – Gartenerlebnisse und Gartenarbeit vermehrt in Kindergärten und Grundschulen einführen – mit kindgerechten Gärten?

2. Sind Gärtner bessere Menschen?

Die Pädagogen hoffen natürlich, dass die Zukunft der Gärten als Bildungseinrichtungen an Bedeutung gewinnen wird, entsprechend der eingangs zitierten Aussage des Zukunft-Garten-Workshops

  • Der Garten ist ein idealer Lern-und Lebensort für alle

„Wenn Sie den Anregungen dieses Buches folgen mögen, dann wird ihr Garten zukunftsfähig, … Ihre Ernährung gesünder und sie leisten einen konstruktiven Beitrag für eine nachhaltige, zukunftsfähige Gesellschaft in der Welt“schreiben die Wuppertaler Pädagogen Gerda und Eduard Kleber  im Vorwort zu ihrem 1999 erschienenen Buch „Gärtnern im Biotop mit Mensch“, das 2011 in einer neuen Auflage erschienen ist. Die Liebe zum eigenen Garten soll die Liebe zu unserem Planeten als Folge haben und deshalb sollte jeder Mensch ein Gärtner sein, denn nur ein solcher  „kann ein eigenes Lebenskonzept gewinnen, das im Einklang mit dem Lebenssystem unseres Planeten steht „.

Das sind wahrhaft hohe Ansprüche. Sie postulieren, dass die Verbundenheit mit einem Garten und die Tätigkeit des Gärtners zu einer Lebensweise  führen, die man im heutigen Sprachgebrauch als „nachhaltig“ bezeichnen würde.

Dazu passt auch der Leitspruch der Deutschen Gartenbaugesellschaft, der in den 1980iger Jahren von ihrer langjährigen Präsidentin Gräfin Sonja Bernadotte formuliert wurde „Gärtnern  um der Natur und des Menschen Willen“.

 So könnte man den Eindruck gewinnen, dass das Gärtnern an sich schon zu „besseren“ , d. h. zukunftsfähigeren Menschen führt. Aber stimmt diese Vorstellung mit der Wirklichkeit überein? Können Gärten nicht sehr unterschiedlich betrieben und bewirtschaftet werden?

Der Augenschein spricht  dafür, dass sich solche positiven Persönlichkeitsveränderungen bei Gärtnern – es soll in Deutschland (nach der Deutschen Gartenbaugesellschaft)  davon immerhin 15 Millionen geben –  normalerweise nicht von alleine einstellen. Schaut man sich die Gärten und die darin aktiven Menschen an, so bekommt man viel mehr den Eindruck, dass das Aussehen von Gärten etwas mit der Persönlichkeit ihrer Besitzer, mit ihrem Lebensstil, ihrer Denkweise und ihren Eigenschaften zu tun hat, weniger aber, dass diese Persönlichkeit durch den Gartenbesitz oder durch das Arbeiten im Garten stark verändert wird: In vielen Gärten wird einem starken Ordnungsbedürfnis gefrönt, dem man nur durch sehr viele oft aufwendige Eingriffe und hohem Maschineneinsatz gerecht werden kann.

Viel zitiert und demonstriert, die Rasenpflege: Der Rasen im Privatgarten ist ein gutes Beispiel dafür, dass es ein wichtiges Lernziel für nachhaltige Gärtnerei sein sollte, dem Prinzip der Eingriffsminimierung zu folgen. Welcher Eingriff ist unbedingt nötig, so sollte sich der Gärtner fragen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen – und natürlich auch: Ist das angestrebte Ziel sinnvoll ? Reinhard Mey hat vor 10 Jahren im „Sylter Rasenstreit“ die Gemeinde Kampen  und seine Nachbarn nicht überzeugen können,dass weniger Rasenpflege sinnvoll wäre. Immerhin ist dabei ein auch pädagogisch einsetzbares Chanson entstanden  „… Irgendein Depp mäht irgendwo immer …“

Resümé: Es bedarf ganz bestimmter Voraussetzungen und persönlicher Erfahrungen, damit Lernen im Garten zu Bildung für Nachhaltigkeit wird – wie dies ja auch die Klebers betonen: „“Wenn Sie den Anregungen dieses Buches folgen…“

Ich möchte dazu ein bisschen von meinen eigenen Erfahrungen berichten:

3. Persönliche Erfahrungen  – mein Weg zur Veranstaltung „ökologischer Gartenbau“

Für mein ganzes Leben, für meine Entwicklung und Bildung waren Naturerlebnisse und Naturbegegnungen von entscheidender Bedeutung. Viele andere Menschen haben ähnliche Erfahrungen gemacht, einige haben darüber auch geschrieben. Edward Osborn Wilson versuchte dies mit seinem Werk  „Biophilia“ sogar evolutionsbiologisch zu begründen.

Auch wenn es schwierig ist , den Bildungswert von Naturerlebnissen quantitativ zu belegen, wird kaum jemand bestreiten, dass Naturkontakte häufig angenehme Empfindungen erzeugen, ja glücklich machen. Vieles spricht sogar dafür, dass die psychische und physische Krankheiten heilen können. Für die Entwicklung von Kreativität und Fantasie können intensive Begegnungen mit der Natur sehr förderlich sein. Dies gilt insbesondere für die normale Entwicklung von Kindern und Jugendlichen.

Die Erkenntnis, dass der unmittelbare Umgang mit der Natur bildenden Wert hat, wurde immer wieder betont: Im 18. Jahrhundert  z. B. Von Jean Jaques Rousseau, im 19. Jahrhundert z. B. von Henry David Thureau. Gerhard Trommer hat sich in jüngerer Zeit ausführlich mit der „pädagogischen Herausforderung Wildnis“ beschäftigt und die Bedeutung unberührter Natur für die Erziehung und Bildung deutlich gemacht.

Wie lässt sich diese „pädagogische Kompetenz“ der Natur erklären? Ein Grund ist sicherlich ihre Vielseitigkeit und Offenheit, gleichzeitig ihre Unergründlichkeit, die nicht nur eine Definition sehr schwer macht, sondern aus jeder Erklärung wieder neue Rätsel entstehen lässt. In Gegensatzpaaren wird vielleicht deutlicher, was ich meine:

  • Der äußeren Natur steht die innere Natur des Menschen gegenüber.
  • Allgemeingültige Naturgesetze bestimmen den Kosmos. Gleichzeitig ist die Natur chaotisch, unvorhersehbar, einem unumkehrbaren Zeitablauf unterworfen . . .
  • Der viel beschriebenen und empfundenen Einheit der Natur steht ihre sprichwörtliche Vielfalt gegenüber

Diese spannungsreichen Polaritäten, diese Vielseitigkeit, die Offenheit zulässt, ist der große Vorzug einer Erziehung oder Bildung durch die Natur.

Bei der Didaktik der Erziehung oder Bildung durch die Natur geht es vor allem darum, gute Gelegenheiten zu schaffen, Begegnungen und Erlebnisse zu ermöglichen.

Solche Überlegungen war der Grund dafür, bei meinem Unterricht zukünftigen Lehrerinnen und Lehrern möglichst viele Gelegenheit zu unmittelbarer Naturbegegnung zu geben. Mit Exkursionen und  „Biologie im Freien“ versuchte ich, dieses Ziel zu erreichen. Dabei waren Erlebnisse, auch Abenteuer, körperliche Anstrengung und ästhetische Erfahrungen  wichtig.

Angeregt durch das Freilandlabor Dönche in Kassel, das uns 1983 von Herrn Hedwig und Herrn Witte anlässlich einer Tagung der Sektion Fachdidaktik des VBiol vorgestellt wurde, haben wir in Flensburg auch eine solche Einrichtung geschaffen. Eine weitere Anregung kam von IPN in Kiel. Ich wurde gefragt, ob ich Interesse daran hätte ein amerikanisches Programm für Freilandbiologie an mitteleuropäische Verhältnisse anzupassen. Das Ergebnis war dann das Büchlein, das Karl Kuhn, Karl Schilke und ich 1986 veröffentlichten, gewissermaßen ein Rezeptbuch für mögliche Freilandaktivitäten. Es wird vielleicht nicht ganz den heutigen Forderungen nach selbstbestimmtem und selbstreflexivem Lernen gerecht. Aber Hauptziel war es, Lehrerinnen und Lehrern durch diese relativ genauen „Vorschriften“ die Angst vor dem Hinausgehen zu nehmen.

Aber wie kam ich zum Gartenbau?

Anfang der 1980 er Jahre gingen die Studentenzahlen unserer Hochschule stark zurück. Im Wintersemester 1984/85 hatten, wir glaube ich, nur vier Neuimmatrikulierte in der Biologie. Die Hochschule hatte Sorge um ihren Bestand und versuchte, durch neue Studiengänge, die nicht zum Lehrerberuf führten, die Studentenzahlen etwas aufzubessern. Ein solcher Studiengang, der vom damals besonders studentenarmen Fach Technik initiiert wurde, nannte sich zunächst  „Technikpädagoge im Entwicklungsdienst“ und war für Studierende aus Deutschland und aus Entwicklungsländern gedacht. Wegen dieser Internationalität wurde er später in „ARTES“ – Appropiate rural technology and extension skills – umbenannt. Die Biologie beteiligte sich mit Veranstaltungen zur Ökologie, z. B. mit einer praktisch orientierten Veranstaltung zum Gartenbau, die auch für unsere Lehramtsstudenten offen war. Mein Partner war Meinolf Hammerschmidt,  Lehrer und Gärtner, der gerade aus Afrika zurückgekommen war, wo er als Entwicklungshelfer vor allem die Anlage von kleinen, der Subsistenzwirtschaft dienenden Gärten betreut hatte. Er wurde von der Hochschule angestellt.  Der besondere Pfiff dieser Veranstaltung war, dass Studierende aus Afrika, Lateinamerika und  Indien mit unseren Lehramtsstudenten zusammen im Garten arbeiteten und über den Garten und verschiedene Projekte nachdachten. Das war für mich und meinen Unterricht eine ganz neue und spannende Erfahrung: Im Garten geht es auch um unmittelbare Naturbegegnungen, aber auch um zielgerichtete Manipulation der Natur, um Nutzung und Gestaltung, um Pflege.

 In den 1990 er Jahren wurde der Studiengang immer mehr in Richtung Energiewirtschaft und Energiebereitstellung umgestellt. Meinolf Hammerschmidt wurde nicht länger von der Hochschule beschäftigt und gründete eine Baumschule für alte Obstsorten. Da sich die Gartenbauveranstaltung mittlerweile aber großer Beliebtheit bei den Lehramtsstudenten erfreute, wurde sie von mir weitergeführt und Hammerschmidt half mir dabei als Lehrbeauftragter.

Mit  mehr oder weniger großem  Erfolg  wurden unterschiedlichste Dinge ausprobiert, wobei wir oft den Vorschlägen der Studierenden folgten (Kompostwirtschaft, Hochbeet, Frühbeet, Einsatz von Folien, Foliengewächshaus, als Sonnenfalle konzipierte  Kräuternische, ausprobieren verschiedener Bewässerungssysteme, Ansiedlung von „Nützlingen“, Erdkeller, Pilzzucht). Natürlich spielte unter Meinolfs Anleitung auch das Veredeln und Anziehen von Obstgehölzen eine wichtige Rolle.

Ich nannte die Veranstaltung „Ökologischer Gartenbau“ und es ging mir darum, parallel zu der praktischen Arbeit im Garten allgemein ökologische Inhalte aber auch Artenkenntnis zu vermitteln. Ein großer Teil der praktischen Arbeit bestand zwar im Unkraut jäten – nicht  unbedingt, weil das für mich so wichtig war, sondern weil es den Studierenden ein Bedürfnis war, ihre Beete möglichst „sauber“  zu halten. Zum Abschluss jeder praktischen Arbeitsphase gab es aber eine Besprechung, in der alle gejäteten Unkräuter ebenso wie alle zufällig mit gefundenen und dann in Gläschen oder Tüten gesammelten Tiere besprochen wurden. Denn was man gut kennt, mit dem wird man sorgfältiger und vorsichtiger umgehen. „Natur erleben und verstehen“ war die Grundlage unserer Arbeit im Garten.

Unsere Erfahrungen sind in die von 1997-2001 vom Kallmeyer Verlag herausgegebenen Hefte „Gärten zum Leben und Lernen“ eingeflossen.

 Die Rückmeldungen, die ich zu dieser Veranstaltung von Studierenden bekam, waren durchweg positiv. Einige waren richtig begeistert und ich bin sicher , sie werden auch als Lehrerin oder Lehrer versucht haben, einen Schulgarten zu etablieren. Aber ich mache mir keine Illusionen,das sind doch verhältnismäßig wenige gewesen. Ob sie durch diese Arbeit wirklich andere Menschen geworden, sind wage ich nicht zu beurteilen. Immerhin könnte ich mir vorstellen, dass sie dabei eine etwas andere Einstellung zur Gartenbewirtschaftung und auch zur Landbewirtschaftung  insgesamt bekommen haben.

Ein Beispiel: Wenn der frisch gepflanzte Salat von einer großen Zahl Spanischer Wegschnecken  sofort weggefressen wird, gibt es ganz unterschiedliche Möglichkeiten, dies zu verhindern: Man kann die Schnecken in Fallen fangen, man kann versuchen, ihnen den Zugang durch einen Schneckenzaun zu verwehren, man kann sie mit chemischen Mitteln (Schneckenkorn) bekämpfen und man kann sie absammeln. Ein Student hat auf seinem 1,5  m² großen Gartenstück in drei Wochen über 700 Schnecken abgesammelt, indem er sein Beet jeden Abend nach Sonnenuntergang aufsuchte. Die Belohnung waren gut gewachsene Pflanzen, aber war der Aufwand vertretbar? Und die nächste Frage: Was passiert mit den gesammelten Schnecken?

Angesichts solcher Erfahrungen erhält eine Diskussion über ökologischen bzw. biologischen Landbau deutlich mehr Substanz und Tiefe.

4. Die Erde als Garten

Ein Gärtner sorgt in seinem Garten für die angebauten Pflanzen, er pflegt sie so, dass sie wachsen und sich gesund entwickeln, schön blühen, eventuell auch Früchte tragen oder als Salat oder Gemüse geerntet werden können. Aus dieser pflegerischen Sorgfalt, die man bei einem liebevoll wirkenden Gärtner ebenso finden kann, wie bei einem Schäfer, dem „guten Hirten“, hat Gerhard Winkel ein pädagogisches oder didaktisches Prinzip entwickelt, das Prinzip des Pflegerischen. Winkel sieht darin eine Leitidee, die Menschen verschiedener Weltanschauungen, Ideologien und Religionen akzeptieren könnten, und die deshalb geeignet wäre – ja, man kann es ruhig so sagen – die Erde vor dem Untergang zu retten.

„Zehn Jahre lang waren mir diese Bedingungen klar, und ich suchte intensiv nach einer übergreifenden Leitidee, bis mir 1976 unter einer Eisenbahnbrücke eigentlich ohne jeden Anlass der Begriff des pflegerischen durch den Kopf schoss. … Wer überhaupt bereit war, sich auf das Problem gemeinsamen Handelns bei unterschiedlicher Weltanschauung einzulassen, konnte mit dieser Leitvorstellung etwas anfangen.“ In seinem Werk „Umwelt & Bildung“ hat sich Winkel ausführlich mit dem von ihm entwickelten „Prinzip des Pflegerischen“ auseinandergesetzt und erläutert, warum er es für ein zentrales Bildungsziel hält: „Das Pflegerische meint also immer Umfassendes, nämlich den pfleglichen Umgang mit den Pflanzen und Tieren, den Landschaften und Ökosystemen, den Rohstoffen und Vorräten, der individuellen Gesundheit, dem sozialen Zusammenleben und den Kulturgütern. Will man es mit anderen Begriffen ausdrücken, umfasst das Pflegerische die Solidarität mit allen Pflanzen, Tieren, Menschen und ihren jetzigen und zukünftigen Bedürfnissen.“

Ein Garten ist sicherlich ein gutes Modell, an dem sich das pflegerische Prinzip einüben und weiter entwickeln lässt. Aber: Ein Garten ist ein umfriedeter Raum, zunächst einmal abgeschirmt und getrennt von seiner Umgebung. In den ersten Oasengärten des Orients abgeschirmt gegen die feindliche Wüste, im Barockgarten abgeschirmt gegen die wilden Naturkräfte,  im Naturgarten abgeschirmt gegen die vom Menschen zerstörte Landschaft. Der Garten ist also eine Art Schutzgebiet, das allerdings nicht, wie die Wildnis-Naturschutzgebiete Nordamerikas, sich selbst überlassen bleibt, sondern gepflegt wird.

In unseren Naturschutzgebieten nennt man das „Biotoppflege“. Es wird beweidet, gemäht, entkusselt, auf den Stock gesetzt, aufgestaut, eventuell auch abgebrannt.

So gesehen ist der Naturschutz bei uns in Mitteleuropa in vielen Bereichen schon eine Art Gartenbau. Und das macht durchaus Sinn. In unserer reich strukturierten, langsam gewachsenen Kulturlandschaft können Pflegemaßnahmen vorindustrielle Kulturzustände erhalten und damit Arten-und Ökosystemvielfalt  fördern.Frau werden ich diese Schilderung wie viele in O wie Frau war ja immer schon so sehr an meine Oma will nun wieder in obwohl nur weil Frau und ich werde ich Ihnen nicht wie immer sie sich in+ Frau in langen Wellen der Mail mit der ich morgen mal du eine

 Der entscheidende Schritt scheint mir aber zu sein, die „Grenzen des Gartens“ aufzuheben. Der Garten, den es zu pflegen gilt, ist unser ganzer Planet. Es gibt keine Zäune mehr, außerhalb derer wir uns unserer Verantwortung entziehen können. Alle unsere Maßnahmen haben grenzenlose Auswirkungen. Die Sorgfaltspflicht endet nicht an der Grenze eines Naturgartens, eines  Naturschutzgebietes oder eines Biosphärenreservats. Die ganze Erde muss so fürsorglich betrachtet werden, wie unser Vorgarten, ja wie unser Wohnzimmer. Wir sind verantwortlich für den ganzen Bioplaneten. Hubert Markl formulierte dies bereits 1986 sehr schlüssig: „Alle Überwindung der Natur durch Kultur erhält ihren Sinn und ihre Rechtfertigung einzig und allein daraus, dass nur dies die Kultur, dass nur dies den Menschen selbst als Kulturwesen fortbestehen lässt. Der Kulturauftrag der Naturunterwerfung ist also aus sich heraus zugleich der Kulturauftrag zur Pflege der so unterworfenen Natur, genauer: zur Erhaltung ihrer Fähigkeit, Menschenkultur zu tragen und zu ertragen.“

So wie der Planet insgesamt immer mehr von menschlichem Wirken beeinflusst und verändert wird, steigt die Verantwortung des Menschen für seine Erde.

Dabei müssen ihm die beiden Eigenschaften helfen, die ihn von allen anderen Lebewesen unterscheiden, seine Intelligenz und seine Empathiefähigkeit. Erst diese Fähigkeit, sich in andere hinein versetzen zu können, nicht nur in andere Menschen, sondern auch in Tiere, vielleicht sogar in Pflanzen, lässt die Umwelt zur Mitwelt werden.

Winkel schreibt in seinem Buch „Umwelt und Bildung“(S.57): „Der Satz: Der Mensch braucht die Natur, aber die Natur braucht den Menschen nicht, ist schlicht falsch: Gerade in der jetzigen Situation unseres Planeten kann nur der Mensch gesund pflegen, was er krank gemacht hat“. Das ist insofern auch meine Meinung, als „die Natur“ den Menschen zwar nicht brauchte, bevor es ihn gab. Aber durch die besonderen Fähigkeiten dieser neuen Spezies, des Menschen, haben sich die Bedingungen geändert – fast vergleichbar mit der  Situation auf der Urerde, als die ersten Lebewesen entstanden sind. Die großen Möglichkeiten, die diese Spezies befähigen, massiv in den Naturhaushalt einzugreifen und Veränderungen zu bewirken betreffen zwar nur einen vernachlässigbaren Teil der ganzen Natur, des Kosmos, aber doch den ganzen Bioplaneten Erde. Noch gibt es auf der Erde relativ ursprüngliche Natur, die von Menschen direkt wenig beeinflusst wird. Dies gilt für Reste von Urwäldern ebenso, wie für Wüstengebiete, arktische und antarktische Gebiete und einige Hochgebirgsregionen. Aber es gibt keinen Fleck auf der Erde mehr, der nicht doch zumindest indirekt von der Art Homo sapiens beeinflusst wird – sei dies  durch die allgegenwärtigen Plastikabfälle oder auch „nur“ über die durch menschliche Aktivitäten bewirkten Klimaveränderung.  Viele dieser menschlichen Einflüsse haben für den Fortbestand eines auch für Menschen günstigen Planeten nachteilige Auswirkungen. Die kausalen Zusammenhänge werden immer deutlicher. Dies bedeutet aber auch, dass man daran etwas ändern kann. Wenn wir davon ausgehen, dass wir in unseren Entscheidungen frei sind, dann haben wir die Möglichkeit, auf die Zukunft dieses Planeten willentlich Einfluss zu nehmen.

 Die letzte Veranstaltung zum ökologischen Gartenbau habe ich im Sommersemester 2004 durchgeführt. Wie würde ich die Veranstaltung heute erweitern?  Es wäre mir wie damals wichtig, dass die Studierenden eigene Ideen entwickeln und umsetzen können. Dabei würde ich versuchen, dazu anzuregen, ökologische Gesichtspunkte bei allen Maßnahmen zu berücksichtigen. Unter „ökologisch“ verstehe ich eine rationale, möglichst viele Gesichtspunkte berücksichtigende Herangehensweise. Einmal soll nach Erklärungen für  alle auftretenden Effekte , insbesondere auch bei Misserfolgen, gesucht werden. Zum anderen sollen  bei allen  Maßnahmen zukünftige Folgen abgeschätzt werden. Dabei ist ein wichtiges Prinzip die Eingriffsminimierung.

Stärker noch, als ich dies früher getan habe – würde ich darauf hinarbeiten, dass der Garten als Modell für unseren Planeten gesehen werden kann. Und ich würde versuchen, Gartenarbeit, Arbeiten im „Freilandlabor“ und Exkursionen inhaltlich stärker miteinander zu verbinden.

Seit einigen Jahren breitet sich in den Großstädten –  nicht nur in Europa sondern auf allen Kontinenten –  eine neue Art der Gartenkultur aus. Diese „Stadtgartenkultur“ – urban gardening – hat nichts mit den gepflegten Grünanlagen der Grünämter zu tun, sie nennt sich auch Guerillagärtnerei, es begann mit dem heimlichen Bepflanzen öffentlicher Plätze und Anlagen, dem Verteilen von „Samenbomben“, der Pothole- (=Schlagloch) Gärtnerei. Mittlerweile wird über „Urban Gardening“ sogar in den Tagesthemen berichtet, der Prinzessinengarten in Berlin-Kreuzberg und seine Initiatoren Robert Shaw und Marco Clausen sind international bekannt.

 Urbane Gärten erschließen Räume in der Stadt, in denen die biologische ebenso wie die soziale Vielfalt gedeiht“ schreiben die Initiatoren des Prinzessinengartens.

Ähnliche Ansätze kann man auf dem im Zentrum Berlins gelegenen Gelände des ehemaligen Flughafens Tempelhof beobachten. Ich hätte das auch für den Platz vorgeschlagen, auf dem der „Palast der Republik“ stand und auf dem jetzt das alte Stadtschloss als eine art Attrappe wieder entstehen soll (vgl. auf dieser Homepage den Artikel „Eine Pyramide für Berlin“).

  • Es gefällt mir, dass diese neuen Stadtgärten mit ihren Benutzern zusammen wachsen und weiterentwickelt werden,
  • es gefällt mir, dass auch Kinder und Jugendliche einbezogen werden,
  • es gefällt mir, dass die Gärten als Verbindungsglied und Schmelztiegel zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen genutzt werden,
  • es gefällt mir, dass diese Gärten einen starken mobilen Anteil haben, dass ihre Saaten und Pflanzkübel plötzlich an anderen Stellen der Stadt wachsen und keimen können.

Wenn ich jetzt noch einmal eine Gartenbauveranstaltung in Flensburg oder in einer anderen Stadt machen dürfte, dann würde ich versuchen, stärker in diesem Sinne zu wirken.

Kann man nicht hoffen, dass auf diesem Wege aus den sich immer weiter ausdehnenden urbanen Zentren der Erde heraus ein neues Grün entsteht, zwar keine unberührte Natur, keine Wildnis, aber doch in ihrer Spontanität und Unbestimmtheit durchaus wildnisähnliche Gärten, nicht nur ein ökologischer und ein ästhetischer Gewinn, sondern auch ein ökonomischer – gewissermaßen eine Subsistenzwirtschaft in der Großstadt, Permakultur in Londons City, Agroforestry in Manhattan, Traubenlese an rebenumrankten Wohnblockfassaden in Berlin- Marzahn?

Das Lernziel heißt: Die Erde ist unser Garten.

Die Stadt als Garten – die Gärten der Semiramis könnten ein Vorbild sein

Die Stadt als Garten – die Gärten der Semiramis könnten ein Vorbild sein

Wiesen und Weiden (ergänzende Materialien zu UB 375)

Ergänzende Materialien zum Unterricht-Biologie-Heft 375  „Wiese“

Bei den Recherchen und Arbeiten für das Unterricht-Biologie-Heft habe ich viele Materialien zusammengetragen, die nicht alle in dem Heft Platz finden konnten. Einige davon werden hier zusammengestellt.

Ergänzung 1: Ich ruhe still im hohen grünen Gras …

Der Wechsel von bewaldeten Kuppen und offenen, von  Wiesen und Weiden geprägten Landschaften, die einen weiten Ausblick ermöglichen, wird von vielen Menschen als ausgesprochen schön empfunden. Wer weiß, vielleicht ist diese Empfindung – vgl. Edward O. Wilson: Biophilia – sogar genetisch verankert, ein Erbe unserer Savannen bewohnenden Vorfahren. Ein solches Landschaftsbild ist charakteristich für die durch  bäuerliche Landwirtschaft geprägten Kulturlandschaft Mitteleuropas.

Besonders in der Romantik haben Wiesen in Lyrik und Malerei eine große Rolle gespielt:

Feldeinsamkeit

Ich ruhe still im hohen grünen Gras

Und sende lange meinen Blick nach oben,

Von Grillen rings umschwirrt ohn Unterlaß,

Von Himmelsbläue wundersam umwoben.

Und schöne weiße Wolken ziehn dahin

Durchs tiefe Blau wie schöne stille Träume; –

Mir ist, als ob ich längst gestorben bin

Und ziehe selig mit durch ewge Räume.

Hermann Allmers 1860, vertont von Johannes Brahms

Frühlingsruhe

O legt mich nicht ins dunkle Grab,

Nicht unter die grüne Erd hinab!

Soll ich begraben sein,

Lieg ich ins tiefe Gras hinein.

 

In Gras und Blumen lieg ich gern,

Wenn eine Flöte tönt von fern

Und wenn hoch obenhin

Die hellen Frühlingswolken ziehn.

Ludwig Uhland 1812

Im schönsten Wiesengrunde …

Wir liegen gerne mit Johannes Brahms (bzw.Hermann Allmers) im hohen grünen Gras, aber den Schwaben gefällt „a gmähds Wiesle“ besonders gut. Die Romantik des Cowboys in der unendlichen Prärie oder der Steppenreiter , Tartaren und Kosaken, liegt in der Weite der unendlichen Graslandschaften begründet, die bösen Geister verstecken sich im dunklen Wald. Die Hauswiese am elterlichen Hof hatte nicht nur für Isländer (Halldor Laxness: Auf der Hauswiese) eine besondere Bedeutung, sondern auch für Mitteleuropäer:

Im schönsten Wiesengrunde

Ist meiner Heimat Haus,

Da zog ich manche Stunde

Ins Tal hinaus.

Dich mein stilles Tal

Grüß ich tausendmal!

Da zog ich manche Stunde

Ins Tal hinaus. … (es folgen 12 weitere Strophen)

Wilhelm Ganzhorn 1851

 Auf der Blumenwiese (Monet, Renoir)

 

Auf der Wiese - Claude Monet, 1876

Auf der Wiese – Claude Monet, 1876

 

Junge Mädchen auf der Wiese - Renoir, 1890-94

Junge Mädchen auf der Wiese – Renoir, 1890-94

Auf der grünen Wiese / hab ich sie gefragt, / ob sie mich wohl liebe. / ‚Ja’ hat sie gesagt! / Wie im Paradiese / fühlte ich mich gleich, / und die grüne Wiese / war das Himmelreich

Diese mittlerweile geflügelten Worte stammen aus der 1936 uraufgeführten tschechischen Operette Auf der grünen Wiese (Na tý louce zelený) von Jara Beneš nach einem Libretto von V. Tolarski.

 

 Wiesenfeste

Auf Wiesen kann man spielen und tanzen, sie sind seit alters her Orte bodenständiger Lustbarkeiten (berühmte Beispiele sind der Wiener „Prater“(lat. pratum = Wiese), die Münchner „Wiesen“ oder der Cannstatter „Wasen“).

Das Oktoberfest von 1823. Ein Gemälde von Heinrich Adam

Das Oktoberfest von 1823. Ein Gemälde von Heinrich Adam

Das Oktoberfest von 1823. Ein Gemälde von Heinrich Adam:

http://www.oktoberfest-live.de/jubilaeumswiesn/allgemein/jubilaeumswiesn-oktoberfest-bilder-aufmacher-873432.html

Eine jüngere Variante der großen Wiesenfeste sind die Open Air Rockkonzerte.

„Wiesenhof“

Der größte Geflügelfabrikant Deutschlands firmiert bezeichnenderweise unter dem Namen „Wiesenhof“, obwohl seine Hähnchen nie eine Wiese zu sehen bekommen – außer in gebratenem Zustand (http://www.wiesenhof-online.de/).

 

Hähnchen vom Wiesenhof

Hähnchen vom Wiesenhof

 

 

 

 

 

 

Ergänzung 2: Verletzung und Endopolyploidie

Abgefressenwerden und abmähen kann das Wachstum von Pflanzen stimulieren. Zumindest für eine ganze Reihe von Gräsern trifft dies zu. Für eine bestimmte Sorte der pflanzenphysiologischen Standardversuchspflanze Arabidopsis thaliana konnten Pflanzenphysiologen der Universität Illinois die Ursache für diese Wachstumssteigerung nachweisen: Verletzung bzw. Abfressen führt bei diesen Pflanzen zur Endopolyploidie, d. h. eine Vermehrung des Chromosomensatzes ohne Kernteilung. Dabei konnten die Wissenschaftler feststellen, dass sich die Chromosomenzahl von ursprünglich 10 auf bis zu 320 vervielfacht hatte. Ob dieser Mechanismus auch bei frassresistenten Gräsern vorkommt, ist bisher nicht bekannt.

Quelle:

Scholes, Daniel R., and Ken N. Paige. 2011. Chromosomal plasticity: mitigating the impacts of herbivory. Ecology 92:1691–1698., doi:10.1890/10-2269.1 (Abstract).

 

Ergänzung 3 : Mehrjährige Getreidearten?

Typisch für fast alle natürlichen Ökosysteme sind überwiegend mehrjährige Pflanzenarten mit einem ausgedehnten Wurzelsystem. Demgegenüber sind die wichtigsten Kulturpflanzen, die Getreidegräser, einjährig. Dies hat verschiedene nachteilige Folgen:

  • hohe Kosten für Landbewirtschaftung
  • Bodenerosion
  • geringe Kohlenstoffspeicherung im Boden

Das ist der Grund, warum das nordamerikanische Land Institute beabsichtigt, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass  die Getreideproduktion allmählich auf mehrjährige Sorten umgestellt werden kann. Damit würden Getreideäcker Wiesen ähnlicher als den heutigen Ackerflächen.

The Land Institute

Summary of the possible. Protecting our soils with perennials.

A. 2010: Hay or grazing operations will continue as they exist. Preparations for subsidy changes begin.

B. 2015: Subsidies become incentive to substitute perennial grass in rotations for feed grain in meat, egg, and milk production.

C. 2020: The first perennial wheat, Kernza™, will be farmer-ready for limited acreage.

D. 2030: Educate farmers and consumers about new perennial grain crops.

E. 2045: New perennial grain varieties will be ready for expanded geographical range. Also potential for grazing and hay.

F. 2055: High-value annual crops are mainly grown on the least erodible fields as short rotations between perennial crops.

http://www.postcarbon.org/article/119799-the-50-year-farm-billwww.%20landinstitute.org:

Ergänzung 4 : Bläulinge, Ameisen und Wiesenpflanzen

Fast alle der 6000 bekannten Arten der Schmetterlingsfamilie der Bläulinge (Fam. Lycaenidae) leben in Grasländern. Außerdem sind die meisten Bläulinge irgendwie mit Ameisen verbunden. Der Helle Wiesenknopf-Ameisenbläuling (Phengaris teleius) legt im Juni oder Juli je ein Ei an einzelne Blüten in Blütenköpfchen des Großen Wiesenknopfes. Die frisch geschlüpften Raupen bohren sich in die Blüte und fressen sie aus. Von einem Blütenköpfchen können sich mehrere Raupen ernähren. Dabei dienen die aufgeblühten Wiesenknopfblüten den Faltern – neben anderen Blüten – auch als Nektarlieferanten, die Eier werden auf noch geschlossene Blüten abgelegt. Nach der dritten Häutung krabbeln die Räupchen auf den Boden. Dort suchen sie aktiv nach Straßen der geeigneten Ameisenarten der Gattung Myrmica und vermutlich gelangen sie so in ein Ameisennest. Möglicherweise werden sie auch von Ameisen dorthin geschafft. Durch geeignete morphologische und chemische Signale werden sie von den Ameisen – obwohl deutlich größer – für eigene Brut gehalten und so behandelt. So können sich bis zur Verpuppung ungestört von Ameisenbrut ernähren. Nach Schätzungen sind etwa 350 Ameisen-Arbeiterinnen nötig, um über die von der Raupe gefressene Ameisenbrut eine Larve des Wiesenknopf-Ameisen-Bläulings durchzufüttern. Normalerweise verpuppen sich die Raupen nach Überwintern im Ameisennest  im späten Frühjahr des folgenden Jahres, seltener bleiben sie auch noch einen Winter länger Ameisengäste.

In diesem Falle handelt es sich eindeutig um eine parasitische Beziehung zu Gunsten des Falters, es gibt jedoch andere Beispiele, bei denen die Bläulingsarten durch Zuckerabscheidung auch zur Ernährung der Ameisen beitragen.

http://de.wikipedia.org/wiki/Heller_Wiesenknopf-Ameisenbl%C3%A4uling)

Ergänzung 5: Umwandlung natürlicher Wälder

Die Waldfläche Mitteleuropas wurde durch Rodungen – zunächst vor allem für die ackerbauliche Nutzung und die Wiesen und Weidewirtschaft – auf etwa ein Drittel der ehemaligen Fläche reduziert (Frey/Lösch 2010). Dabei wurden die Waldflächen vorwiegend auf ärmere Standorte und Hanglagen zurückgedrängt. In der Folge wurden die Wälder durch Holzanschlag für Heizenergie, Glashütten, n, Ziegelbrennereien, Bergbau und Eisenhämmer weiter reduziert. Die wachsenden Städte benötigten immer mehr Bauholz und die Waldweidewirtschaft führte zu einer weiteren Walddegradation zu Gunsten offener, gräserreicher Habitate.

Wie in den unten stehenden Schemata dargestellt, sind diese Entwicklungen teilweise reversibel. Dies hängt allerdings davon ab, wie weit die Degradation der ursprünglichen Vegetation fortschreitet. Offene Habitate sind stärker erosionsgefährdet und bei anhaltend starker Beweidung kann dies zu einer wüstenhaften Vegetation auf weitgehend degradierten Böden führen, wie dies zum Beispiel für Teile des Mittelmeergebiet charakteristisch ist.

WaldwandelNach Ellenberg, H. (1996): Vegetation Mitteleuropas und der Alpen aus Frey, W./Lösch, R.: Lehrbuch der Geobotanik. Pflanze und Vegetation in Raum und Zeit. Elsevier, /Spektrum, München 20103, Abb.9-34  Umwandlung natürlicher Kalkbuchenwälder (Urwald) durch Weide-, Acker- und Waldwirtschaft auf lehmüberdecktem Kalkboden (Braune Rendzina) in der submontanen Stufe Mitteleuropas

Ergänzung 6: Ethymologische Notiz zum Thema WieseEthym.wiese

Aus Braun, W. et. al.: Ethymologisches Wörterbuch des Deutschen. Akademie Verlag, Berlin 19932

Ergänzung 7: Gräser

Gräser sind die wichtigsten Pflanzen der Wiesen und Weiden, eben der Grasländer. Sie sind aber auch seit Beginn menschlicher Kultur stete die Begleiter des Menschen gewesen: Die ersten Kulturen des Ackerbaus und der Viehzucht entstanden vermutlich in den Grasfluren des „Fruchtbaren Halbmondes“. Bis heute stellen die Gräser mit den Getreidearten Weizen, Reis und Mais, Hirsearten, Roggen, Gerste und Hafer sowie dem Zuckerrohr die wichtigsten Nährstofflieferanten. Als Futtergräser sind sie außerdem Grundlage für die Fleisch – und Milchproduktion. Umgekehrt spielen sie auch als „Unkräuter „eine Rolle, insbesondere Acker-Fuchsschwanz, Quecke, Flughafer und Windhalm. Schließlich nutzen wir Gräser in Rasen von Parks, Gärten und Sportanlagen.

Doch trotz dieser engen Beziehung ist es auch für Pflanzenkundige oft nicht einfach, die verschiedenen Arten der Gräser und Grasverwandten zu unterscheiden. Grund ist zum Beispiel, dass ihnen infolge der die Gültigkeit auffällige Blüten fehlen und dass sie sich aktuell sehr ähnlich sehen und die entscheidenden Unterscheidungsmerkmale nur bei genauer Betrachtung auffallen. Ein weiterer Grund ist die große Artenfülle: zu etwa 11.000 Süßgräsern (Fam. Poaceae) kommen 5500 Sauergräser (Fam. Cyperaceae) und 400 Binsengewächse (Fam. Juncaceae). Alle werden heute zur Ordnung Poales (Süßgräserartige) gerechnet. Auch in Deutschland kommen immerhin über 400 verschiedene grasartige Pflanzenarten vor!

Es gibt eine ganze Reihe spezieller Bestimmungsbücher für Gräser. Ich selbst habe mich auch in Bestimmungshilfen versucht, zum Beispiel in dem UB-Heft 175  „Gräser und Getreide“ (1992) und in den „Botanischen Exkursionen II“. Aus diesem Buch stammen die folgenden schematischen Darstellungen zu den typischen Familienmerkmalen von Süßgräsern, Sauergräsern und Binsengewächsen.

Bauplan der Süßgräse

Bauplan der Sauergräser

 

 

 

 

 

 

 

Bauplan der Binsengewächse

Das Taschenbuch der Gräser von Ernst Klapp hat mich schon während meines Studiums begleitet (damals schon die achte Auflage, 1957), mittlerweile gibt es die 2006 erschienene 13. Auflage in der Bearbeitung von Opitz von Boberfeld. Recht originell ist die „Kleine Gräserfibel“ von C. H. Schade, in der die Gläser nach bestimmten, leicht kenntlichen Merkmalen in Gruppen unterteilt werden. Dem Büchlein ist eine einseitige Übersichtstabelle beigegeben, die noch nicht einmal DIN A4 Format hat und auf der 34 Süßgräser mit ihren wichtigen Merkmalen und Standortansprüchen dargestellt sind. Dieses Heft ist ebenso wie die originellen Bestimmung Tabellen von Rudolf Kiffmann (Weihenstephan) vor allem für angehende Landwirte gedacht.

Haller, B./Probst, W.: Botanische Exkursionen Bd. II: Exkursionen im Sommerhalbjahr. G. Fischer, Stuttgart/New York 19892 (Nachdruck 2016 bei Springer)

Klapp, Ernst/ Opitz von Boberfeld, Wilhelm: Taschenbuch der Gräser. Ulmer, Stuttgart 200613  (im Buchhandel)

Schade, C.H.: Kleine Gräsefibel. Neumann-Neudamm, Melsungen 19572 (nur antiquarisch)

Kiffmann, Rudolf: Illustriertes Bestimmungsbuch für Wiesen-und Weidepflanzen des Mitteleuropäischen Flachlandes. Teil A :Echte Gräser(Gramineae) – Teil B.Sauergräser(Cyperaceae),Binsengewächse (Juncaceae) – Teil C.Schmetterlingsblütler (Papillionariae)(einschl.kleeartige Ackerfutterpflanzen). Freising ,Weihenstephan, A: 19623,- B:1959, C:19662 (nur antiquarisch)

Ergänzung 8: Korrekturen

Basisartikel

S. 8., auf Abb.8, ganz oben, muss der wissenschaftliche Name des Baumweißlings heißen: Aporia crataegi (von Crataegus = Weißdorn)

S. 9 letzter Absatz gehört zur Aufzählung, letztes Wort „Wiesen-“ muss gestrichen werden

Durch die Blume – Blüten und ihre Bestäuber

S. 14, Kasten

Der wissenschaftliche Name des Wiesen-Bärenklaus ist Heracleum sphondylium

Wilde Weiden für die Biodiversität

Das Foto auf S. 41 unten links zeigt einen Raubwürger und keinen Neuntöter

Aufgabe pur: Wiesenklee – „Schlüsselart“ mit Blutfarbstoff

Die Infos zur 4. Teilaufgabe sind nicht korrekt. In dem Versuch der Bayreuther Forscher wird der Einfluss des Wiesenklees auf die Biomasseproduktion bei unterschiedlicher Anzahl von Begleitarten  untersucht. Hier die entsprechende Korrektur:

AufgabeS.53

 

 

Zehn Jahre Nachhaltigkeitsstrategie

Heute vor zehn Jahren, am 17. April 2002, hat die rot-grüne Bundesregierung einen Beschluss über eine Nachhaltigkeitsstrategie gefasst, der unter der Überschrift “ Perspektiven für Deutschland – Unsere Strategie für eine nachhaltige Entwicklung“ veröffentlicht wurde und über das Internet heruntergeladen werden kann. Es geht darin um Generationengerechtigkeit, Lebensqualität, sozialen Zusammenhalt, internationaler Verantwortung und die Managementregeln, mit denen Nachhaltigkeit zu erreichen wäre.

Die Grundidee ist sehr einfach und einsichtig: Wir wollen heute so leben, dass auch noch  in Zukunft ein „gutes Leben“ möglich ist. ‚Until the next big asteroid hits us, the future of life on earth will depend much more on humanity than on anything else“  (G. C. Daily, Nature 411, 17 . Mai 2001,p.245). Damit wird sehr gut ausgedrückt, dass die Zukunft der Erde davon bestimmt wird, was die Menschheit und die einzelnen Menschen heute tun. Die Verwendung des Personalpronomens „uns“ für die Erde geht von einem globalen Zusammengehörigkeitsgefühl aus. ln den Menschen als Bestandteilen der Biosphäre wird sich die Natur „ihrer selbst bewusst“. Aus diesem Bewußtsein ergibt sich Verantwortung , und zwar eine inklusive Verantwortung, die den ganzen Planeten einschließt. Der Hinweis auf den Asteroiden lässt einen kleinen Spalt offen für Fatalismus und ein bisschen  Fatalismus ist für die Psychohygiene sehr gesund.

Die Erkenntnis, dass nachhaltiges Wirtschaften wichtig ist, stammt ursprünglich aus der Forstwirtschaft. In forstwirtschaftlichen Zusammenhang wurde der Begriff schon 1713 verwendet und zwar von dem Oberberghauptmann Hans Carl von Carlowitz (1645-1714). Er hatte Sorge, dass bei der weiteren exzessiven Nutzung von Bauholz im Bergbau in naher Zukunft der Nachschub aus den Wäldern gefährdet wäre. Noch klarer formulierte dies 1791 der Forstwissenschaftler Georg Ludwig Hartig (1764-1837) in seinen “ Anweisungen zur Holzzuchzt für Förster“, in denen er klar zum Ausdruck brachte, dass nur so viel Holz geschlagen werden darf, wie auch nachwächst (vgl. Wikipedia).

Erst im 20. Jahrhundert wurde dieses Nachhaltigkeitsprinzip von der Forstwirtschaft auch auf andere Wirtschaftsbereiche übertragen. In der Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt und Entwicklung (United Nations Conference on Environment and Development, UNCED; häufig als Erdgipfel bezeichnet vom 3.bis 14. Juni 1992 in Rio de Janeiro) wurde das Anstreben einer nachhaltigen Entwicklung als wichtigstes Ziel formuliert. Für den Juni dieses Jahres wurde mit Rio +20 ein weiteres Gipfeltreffen der Vereinten Nationen in Brasilien angesetzt, dessen Titel Konferenz der Vereinten Nationen über nachhaltige Entwicklung lautet.

 So kann man eigentlich sagen: an Bemühungen und guten Absichten fehlt es nicht, das Problem ist jedoch die Umsetzung. Im Fortschrittsbericht der Bundesregierung zum Stand der Bemühungen um Nachhaltigkeit in Deutschland kann man nachlesen, dass wirtschaftliche Veränderungen weitgehend in die richtige Richtung gelaufen sind. Schon wesentlich ungünstiger sieht es mit den angestrebten Entwicklungen im sozialen Bereich aus. Die Umweltveränderungen sind zum großen Teil in die falsche Richtung gelaufen. Das gilt für die Entwicklung der Biodiversität ebenso wie für Landschaftsverbrauch und ressourcenschonende Landwirtschaft.

Vom Bericht kaum erfasst werden die Aktivitäten Deutschlands in globaler Hinsicht. Der Klimawandel, die Veränderungen der Weltmeere, insbesondere die Überfischung und die Verschmutzung, Bodenverluste durch Erosion, Ausdehnung der Wüstengebiete und auch und die immer weitergehenden Zurückdrängung naturnaher Wald-Ökosysteme haben sich in den letzten 10 Jahren nicht „nachhaltig entwickelt“. Was vor 300 Jahren in Mitteleuropa zum ersten Mal erkannt und dann in den folgenden Jahrhunderten auch einigermaßen umgesetzt wurde, wird bis heute auf tropische Regenwälder aber auch auf Urwälder der gemäßigten Zonen – etwa in Kanada oder in Südamerika – nicht angewandt. Angesichts des großen Holzbedarfes – insbesondere der Zellstoffindustrie -, des großen Flächenbedarfes der Futtermittel- und Biomasseproduzenten und dem damit stattfindenden „landgrapping“ werden nicht nur immer mehr naturnahe Waldflächen „verbraucht“, auch die Existenzgrundlagen der indigenen Bevölkerungen verschlechtern sich kontinuierlich. Die immer weiter steigenden Energiepreise lassen auch früher unwirtschaftliche und einer nachhalltigen Entwicklung besonders abträgliche Ausbeutungsformen wie die Gewinnung von Erdöl aus Ölschiefer (z. B. in Kanada) zum Probem werden.

Weltweit hat sich in den vergangenen zehn Jahren vor allem das Verkehrsaufkommen und der damit verbundene Verbrauch von fossilen Energieträgern  gesteigert. Die dafür benötigten Autos und die Flugzeuge werden zu einem deutlichen Prozentsatz auch in Deutschland produziert. Im übrigen ist auch in Deutschland das hohe Verkehrsaufkommen ein Umweltproblem. Der derzeitig hohe Benzinpreis kann deshalb eigentlich nur begrüßt werden. Allerdings sollten die daraus resultierenden Gewinne auch sinnvoll genutzt werden (dies gilt sowohl für die staatlichen Steuereinnahmen als auch für die Gewinne der Mineralölkonzerne).

In einem Artikel zum Fortschrittsbericht zur nationalen Nachhaltigkeitsstrategie (2012) schreibt die Bundesregierung:  „Nachhaltige Mobilität bedeutet vor allen, den Verkehr so zu organisieren, dass Beschäftigung, Wohlstand und persönliche Freiheit möglich sind und dass er sicher, sauber, ressourcenschonend, effizient und klimafreundlich, leise und bezahlbar ist.“ Das klingt sehr vernünftig – allein, es ist kaum zu erkennen, dass ernsthafte Absichten bestehen, diesen schönen Worten auch Taten folgen zu lassen.

Weitere Informationen der Bundesregierung zum Nachhaltigkeitsbericht und einen Zugang zum vollständigen über 300 seitigen Bericht findet man unter folgendem Link:

http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Artikel/2012/02/2012-02-15-kabinett-fortschrittsbericht-2012.html;jsessionid=14E343D8C48FE64DD6FBBEDE0907DCAB.s1t1?nn=28588&__site=Nachhaltigkeit

Ein lesenswerter Bericht zur Wirkung der Nachhaltigkeitstrategie in Deutschland findet sich in der TAZ vom 17.4.2012.

Der symbiotische Planet – Lynn Margulis (5.3.1938 – 22.11.2011) eröffnete eine neue Sicht auf das Leben und die Erde

Im Botanischen Großpraktikum an der Universität Tübingen hörte ich 1965 zum ersten Mal von einer alten aber recht abstrusen Theorie, die 1883 von A. F. W. Schimper in die Welt gesetzt worden war. Danach sollten Chloroplasten und andere Plastiden aus endosymbiotischen Blaualgen hervorgegangen sein. Es wurde uns damals von unserem Dozenten gesagt, dass diese Hypothese sehr weit hergeholt wäre und wenig Widerhall gefunden hätte. Nach modernen Erkenntnissen müsste man sie als sehr unwahrscheinlich ansehen. Fasziniert hat mich der Gedanke damals trotzdem.

1967 erschien der Aufsatz von Lynn Sagan (so hieß Margulis damals noch nach ihrem ersten Ehemann, dem Astrophysiker Carl Sagan) „On the origin of mitosing cells“. Die Arbeit war von zahlreichen Publikationsorganen zurückgewiesen worden, ehe sie schließlich vom Journal of Theoretical Biology angenommen wurde. Ihm folgte dann 1970 die Buchpublikation „Origin of Eukaryotic Cells„, die den Durchbruch brachte. Von beiden Publikationen erfuhr ich erst deutlich später. Und dann habe ich allmählich auch viele andere Werke von Lynn Margulis gelesen. Ich war immer wieder fasziniert von ihrem unkonventionellen Stil und ihren überraschenden Gedankengängen und Schlussfolgerungen. So hat mich die Lektüre ihres gemeinsam mit Karlene V. Schwartz herausgegebenen Buches „Five Kingdoms: An Illustrated Guide to the Phyla of Life on Earth“ (1987) dazu veranlasst, meine Lehrveranstaltung „Die Abteilungen des Pflanzenreiches“ in „4 aus 5“ umzubenennen.

Heute hat die Endosymbiontentheorie Eingang in alle Lehrbücher und viele Schulbücher gefunden. Sie gilt als gesichert und fundiert und dies ist vor allem Lynn Margulis zu verdanken. Margulis erhielt für ihre Forschungen die National Medal of Science des US Präsidenten, die Darwin-Wallace Medal der Linnean Society, London, und den William Procter Prize for Scientific Achievement. Sie wurde nicht nur Mitglied der US-amerikanischen sondern auch der Russischen Akademie der Wissenschaften, in die außer ihr bisher nur drei andere US-Amerikaner aufgenommen wurden. Dies lag sicherlich auch daran, dass sie in ihren Arbeiten an die russischen Symbioseforscher des frühen 20. Jahrhunderts erinnerte und diese in der westlichen Welt überhaupt erst bekannt machte. Sie bezeichnete die von Forschern wie Konstantin S. Mereshkowsky, Boris M. Kozo-Polyansky oder Ivan E. Wallin vertretenen Ansichten mit dem von dem im englischen Exil lebenden Russen Peter Kropotkin als Ergänzung zu Darwin gedachten Werk „Mutual Aid“ als „Mutual-Aid-Biology“. Trotz ihres großen Erfolges kann man die Powerfrau bis heute nicht eigentlich zum Establishment der Biologen und Naturwissenschaftler zählen. Immer wieder schockte sie ihre Kollegen mit ungewöhnlichen Ideen, mit denen sie außerhalb des etablierten Wissenschaftsgebäudes lag. Ihr oberstes Ziel war es, die Kooperation unter den Organismen als wichtigsten Motor der Evolution zu etablieren und an die Stelle der von Neodarwinismus und der synthetischen Theorie ganz in den Vordergrund gestellten Konkurrenz zu setzen. Der Symbiogenese als Artbildungs- und Evolutionsprozess vor allem auf der Stufe der Mikroorganismen und Prokaryoten widmete sie einen Großteil ihrer Forschungen und ihrer Publikationen, die sich auch an eine breitere Öffentlichkeit wandten, dann häufig in Coautorenschaft mit ihrem Sohn aus erster Ehe Dorion Sagan. So ist es auch gut verständlich, dass sie schon früh als Protagonistin der von Lovelock aufgestellten Gaia Hypothese auftrat.
Auch ist es deshalb nicht verwunderlich, dass Lynn Margulis dem horizontalen Gentransfer eine große Bedeutung für die Evolution zugemessen hat, was sich bis heute in mancher Hinsicht zu bestätigen scheint. In jedem Falle haben ihre Gedanken und Ideen den Vorstellungen vom Leben auf der Erde und seiner Evolution viele ganz neue Impulse gegeben. Nicht ganz verständlich für mich ist, dass Margulis sich sehr kritisch zur „natürliche Selektion“ als Evolutionsfaktor geäußert hat, weil sie dies als „Abwertung“ der Symbiogenese ansah. Es geht doch aber darum, herauszufinden ob Konkurrenz oder Kooperation bei der Wirksamkeit der natürlichen Selektion wichtiger sind. Trotzdem ist nicht ganz zu verstehen, wie heftig Lynn Margulis deswegen von etablierten Evolutionsbiologen angegriffen wurde und wird.

Schließlich muss auch erwähnt werden, dass Margulis in den letzten Jahren einige ziemlich einhellig als eher abwegig anzusehende Hypothesen im Zusammenhang mit dem Immunsystem aufgestellt hat, unter anderem hat sie auch Zweifel daran geäußert, dass Aids vorwiegend auf eine Virusinfektion zurückzuführen sei. Sehr angegriffen wurde sie auch dafür, dass sie sich 2009 für die Veröffentlichung einer Arbeit von Donald I. Williamson in den renommierten Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS) einsetzte, die in der Fachwelt großen Widerspruch erregte. Der Autor versucht in dieser Arbeit nachzuweisen, dass die Metamorphose der Insekten auf die Hybridisierung zweier verschiedener Arten zurückzuführen ist. Er nimmt an, dass auch andere Entwicklungen, die über ein Larvenstadium laufen, aus solchen Hybridisierungen entstanden sind.

Seit 1988 lehrte und forschte Lynn Margulis an der University of Massachusetts Amherst. Es gelang ihr, gleichzeitig und gleichermaßen intensiv und engagiert zu forschen, zu lehren und vier Kinder aufzuziehen.
So sehr sie nun vermisst werden wird, so beruhigend ist doch, dass sie in ihren zahlreichen Publikationen weiter präsent bleibt.

•  Literatur von und über Lynn Margulis im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek

https://portal.dnb.de/opac.htm?query=Woe%3D115464654&method=simpleSearch

 

 

Die fremddienliche Zweckmäßigkeit des Gallapfels

Gallen der Blattlaus Tetraneura ulmi auf Blättern der Berg-ULME

Gallen der Blattlaus Tetraneura ulmi auf Blättern der Berg-Ulme

Fremddienliche Zweckmäßigkeit und Weltseele

Vor fast 100 Jahren dienten dem Philosophen Erich Becher Pflanzengallen als Argument für eine Weltseele, heute könnten Vetreter des „Intelligent Design“diese Argumentationslinie nutzen. Doch obwohl ihre Leistungen durchaus verblüffend und bis heute in manchen Hinsicht rätselhaft sind, stehen Pflanzengallen bisher nicht gerade im Blickpunkt aktueller Forschungen und auch von Naturfreunden und Freilandbiologen werden sie meist nicht besonders beachtet. Dies mag daran einmal daran liegen, dass es für diese eigenartigen Naturphänomene – im Gegensatz zu vielen anderen Organismengruppen und Naturerscheinungen – nur verhältnismäßig wenige lnformationsmöglichkeiten gibt (vgl. aber Bellmann 2012). Allerdings kann man sich im Internet mittlerweile ganz gut informieren. Zum anderen könnte der Grund aber auch sein, dass Ursachen ihrer Bildung bisher weder auf funktionaler (proximater) noch auf evolutionstheoretischer (ultimater) Ebene befriedigend erklärt sind. Weiterlesen

Inseln als Lebensraum

Wilfried Probst

Vortrag in der Akademie Sankelmark, 22.07.2003

Einführung

Inseln isolieren: das Wort „Isolation“ lässt sich auf das lateinische „insula“ zurückführen, heisst also eigentlich „Verinselung“.

Das mag eine „splended isolation“ sein, von der viele Bewohner der Britischen Inseln bis heute träumen oder auch eine trostlose Isolation, eine Vereinzelung, die von größeren, erstrebenswerten Gemeinschaften abschneidet, Kontakte unterbricht oder gar nicht erst aufkommen lässt. Auch solche Isolation hat es im politischen Raum immer wieder gegeben. Berlin war eine Insel des Westens im sowjetischen Einflussbereich; der Irak war (und ist) isoliert, Nord-Korea ebenso.

In den Träumen und Zielvorstellungen der Menschen spielen Inseln eine recht unterschiedliche Rolle. In der griechischen Antike träumte man von den „Inseln der Glückseeligen“, auf denen die Hesperiden die goldenen Äpfel bewachten. Atlantis ist eine Trauminsel, die bis heute durch unsere Vorstellungen geistert.  Arno Schmidt greift das Aufklärungsthema der „Gelehrtenrepublik auf und verlegt sie auf eine futuristische Insel.

Auf Inseln wird der Mensch isoliert und einzeln stehend besonders gefordert. Und er kann diese Herausforderung meistern, wie Daniel Defoe’s Robinson Crusoe zeigt. Er kann aber auch beinahe daran zugrunde gehen, wie dies William Golding in seinem Roman „Herr der Fliegen“ drastisch schildert. Ferne Inseln waren der Stützpunkt von Piraten. Sie können bis heute geheimnisvolle Schätze bergen, wie Stevensons Schatzinsel. Die ausgedachte Karte war der Ausgangspunkt für diesen erfolgreichen Abenteuerroman.

Inseln haben also für uns Menschen gewaltigen Symbolcharakter. Das arabische Schriftzeichen wird Ihnen vielleicht nichts sagen. Es bedeutet „die Insel“ und es heißt „al djasira“ – eine Insel der unverfälschten Informationen im Meer der Falschmeldungen und der Informationsunterdrückung.

Sie haben sich in den vergangenen Tagen bereits mit den vielseitigen Aspekten von Inseln beschäftigt: von der geologischen Entstehung bis zur Inselliteratur. Heute soll es um die Inseln als Lebensraum, also um die „Inselbiologie“, gehen. Themen, die wir heute ansprechen, wird man im Lexikon vielleicht noch eher als unter „Inselbiologie“ unter „Inselökologie“ oder „Inselbiogeographie“ finden.

Unterscheiden sich Inseln von anderen Lebensräumen? Und wenn ja, wie sehen diese Unterschiede aus? Worin liegen sie begründet? Und welche Auswirkungen haben sie auf das Inselleben? Vielleicht auch auf das Leben als Ganzes, auf die ganze Biosphäre. Was bedeutet „Verinselung“?

 Teil 1 Inseln Isolieren

Inseln isolieren

Seit langem weiß man, dass Inseln weniger Arten beherbergen als vergleichbar große Festlandsgebiete. Natürlich hängt die biologische Vielfalt, also die Artenzahl einer Inseln von einer Fläche ab. Dies ist sogar eine verhältnismäßig einfache Beziehung, die sich aus empirischen Daten ergibt und die als Artenzahl gegen den Logarithmus der Inselfläche aufgetragen meist eine mehr oder weniger deutliche Gerade ergibt (Abb.: Artenzahl Arealkurve der Vogelarten auf den Salomonen nach Diamond und May 1976). In arithmetischer Darstellung ergibt sich immer eine mehr oder weniger gekrümmte Kurve, deren Steigung mit zunehmender Fläche nahezu gegen Null gehen kann. Natürlich gibt es viele weitere Parameter, die für die Artenvielfalt einer Insel verantwortlich sind, z.B. die Vielfalt der Habitate (aber die ist in der Regel wiederum flächenabhängig), die  Entfernung von einem  großen Festland oder von anderen Inseln, das Alter, die geographische Breite usw.

„Insel“ bedeutet in diesem Zusammenhang übrigens nicht unbedingt eine allseits  von Wasser umgebene Landfläche – so werden Inseln in Lexika im allgemeinen definiert. Auch Seen sind Inseln in einem Meer von Land, Bergspitzen in einer Ebene, Lichtungen in einem Wald, Oasen in einer Wüste. Ebenso gibt es Inseln, die sich in geologischen Merkmalen, Bodentypus oder Vegetation von ihrer Umgebung unterscheiden. Auch Verkehrsinseln sind Inseln in einer biologisch feindlichen Straßenumgebung. Für diese Formen von Inseln ergeben sich sehr ähnliche Kurven, wenn Artenzahl und Arealgröße gegeneinander aufgetragen werden. So schreiben schon MacArthur und Edward O. Wilson 1971, dass „die inselartige Beschaffenheit ein überall anzutreffendes Merkmal der Biogeographie ist“.

Daraus wird deutlich, dass Fragen der Inselökologie oder Inselbiogeographie weit über die Bedeutung für eigentliche Inseln hinausgehen, wenn man die Verteilung und das Muster von Arten und Artengemeinschaften untersuchen will. Denn es gibt kaum natürliche Lebensgemeinschaften, die nicht zumindest einige Elemente von Inselhaftigkeit besitzen. Schon die Unterteilung der Biosphäre in verschiedene Ökosysteme zeigt ja mit dem Begriff „Ökosystem“, dass man sich die Biosphäre zusammengesetzt vorstellt aus Teilsystemen, die voneinander mehr oder weniger isoliert, und damit verinselt, sind.

Einwanderung – Auswanderung

Nach der Theorie der Habitatdiversität, die v.a. auf Lack (1934, 1942, 1969) zurück geht, ist die Artenzahl einer Insel in erster Linie von der Zahl der unterschiedlichen Lebensräume abhängig. Da diese Zahl der Lebensräume in der Regel mit der Fläche korreliert, kommt es zu den vorher erwähnten Artenzahl-Arealkurven. Zwingend ist dies jedoch nicht, habitatarme größere Inseln können artenärmer sein als habitatreiche kleinere. Da sich Lack nur mit Vogelarten beschäftigte, ist auch verständlich, dass er sich mit Zuwanderungsbarrieren weniger befasste. Nach seiner Vorstellung beruht die Abwesenheit bestimmter Populationen auf einer Insel nicht auf mangelnder Besiedelung, sondern immer auf dem Fehlen geeigneter Lebensräume.

Demgegenüber begründeten MacArthur und Edward O. Wilson 1967 die Gleichgewichtstheorie der Inselbesiedelung. Danach stellt sich – qualitativ leicht zu beschreiben – auf jeder Insel ein Gleichgewicht zwischen Einwanderungsrate und Aussterberate der Arten ein. Je mehr Arten auf einer Insel vorhanden sind, desto geringer ist die Einwanderungsrate. Entweder, da keine Arten zur Einwanderung mehr zur Verfügung stehen, oder, da es keinen Platz mehr für die neu zugekommenen Arten gibt, da also keine „Nische“ mehr für sie frei ist. Umgekehrt ist die Aussterberate umso größer, je mehr Arten auf der Insel sind. Im einfachsten Fall könnte es sich hier um eine lineare Beziehung handeln. Dann ließe sich dies in einem Raten-Artenzahldiagramm mit Geraden darstellen. Der Schnittpunkt wäre der Gleichgewichtspunkt, in dem sich der Artenreichtum im Gleichgewicht befindet. Wahrscheinlicher ist allerdings, dass es sich bei der Beziehung von Aussterberate bzw. Einwanderungsrate zu Artenzahl nicht um eine lineare Beziehung handelt, sondern eher um zwei konkave Kurven wie in der Abb. dargestellt. In jedem Fall stellt ich – steht nur genügend Zeit zur Verfügung, ein Gleichgewicht ein, eine bestimmte Artenzahl. Die Zusammensetzung der Arten, das Artenspektrum, kann sich oder muss sich allerdings weiter ändern, da ja immer Arten aussterben und Arten Einwandern, in einer Rate, die dem Gleichgewicht entspricht.

Dabei hängt der Kurvenverlauf sehr stark von der Beschaffenheit der Insel und ihrer Lage zu einem benachbarten Festland ab. Bei nahe zum Festland gelegenen Inseln ist die Einwanderungsrate zunächst sehr groß, bei weit entfernten klein. Auch die Größe der Insel spielt eine Rolle. Je größer, desto mehr Einwanderer können „aufgefangen“ werden. Dabei spielt auch die Gestalt der Insel eine Rolle.

Umgekehrt ist die Aussterberate bei großen Inseln geringer als bei kleinen, da sie viel mehr Habitate enthalten und deshalb auch Platz für mehr ökologische Nischen sprich Arten bieten.

Man kann eine Schar unterschiedlicher Kurven für Einwanderungsrate und Aussterberate in Abhängigkeit von der Artenzahl auftragen und erhält dann – je nach Kombination –  unterschiedliche Gleichgewichtswerte  (Abb.).

Obwohl dieses Modell zunächst sehr plausibel klingt, so zeigte sich doch bei der empirischen Überprüfung, dass es ausgesprochen schwierig ist, dieses Modell durch eindeutige Daten zu belegen. So lässt sich die Größenabhängigkeit der Artenzahl im Gleichgewicht auch alleine durch Habitatdiversität erklären. Und auch der Einfluss der Abgelegenheit kann vollkommen unabhängig von der Gleichgewichtstheorie betrachtet werden. Viele Arten sind nämlich in ihrer Ausbreitung so limitiert, dass sie entfernte Inseln nicht nur erschwert erreichen, sondern auch erst sehr viel später. Und dies kann dann dazu führen, dass solche isolierten Inseln weniger „gesättigt“ sind, dass sich also das von MacArthur und Wilson postulierte Gleichgewicht noch gar nicht eingestellt hat. In jedem Fall sollte man die Theorie der Habitatvielfalt, also die Aussage, dass die Vielfalt der Lebensräume für die Artenzahl auf einer Insel verantwortlich ist (Lack), und die Aussage, dass dafür das sich einstellende Gleichgewicht aus Einwanderungsrate und Aussterberate verantwortlich sind (MacArthur und Wilson) nicht als antagonistische Theorien, sondern als sich gegenseitig zu ergänzende Theorien ansehen.

Zyklen

Die beiden oben erwähnten Modelle zur Inselbesiedelung gehen von einem Endgleichgewichtszustand, auch wenn es sich bei dem Einwanderungs- Aussterbe-Modell eher um ein „Fließgleichgewicht“ handelt. Die Entwicklung strebt einem ausgeglichenen Endzustand zu. Einen solchen Zustand nennt man in der Biologie  einen Klimaxzustand. An diesem „biologischen Gleichgewicht“ verändert sich dann nichts mehr, es sei denn, es kommt durch Eingriffe von außen oder durch Katastrophen dazu, dass alles wieder von vorne anfängt. Nach der Klimaxvorstellung sind das aber Ausnahmen.

Dem steht die dynamische Auffassung von Biozönosen gegenüber, die am besten durch die Mosaik-Zyklus-Theorie beschrieben wird. Am deutlichsten wird dies bei der Untersuchung von (Ur-)Waldökosystemen. So gibt es nach Ellenberg (1978) z.B. keinen Endzustand eines natürlichen Urwalds. Vielmehr entwickeln sich nach dem Zusammenbrechen der alten Bäume Lichtungen und dort entstehen unter heftiger Konkurrenz zunächst Gesellschaften von Pionierbaumarten, die ihrerseits nach einiger Zeit wieder zusammenbrechen. Auch dann kommt es wieder zu heftiger Konkurrenz und schließlich kehren die ursprünglichen Baumarten zurück. In einem roßen Waldökosystem  laufen diese Prozesse ständig auf kleinen Flächen („patches“)  nebeneinander ab, so dass immer viele verschiedenen Entwicklungsstadien mosaikartig nebeneinander liegen. Ein besonders schönes Beispiel für diese, sich im Kreis entwickelnde Dynamik zeigt die Abfolge der Waldstadien in einer flachen Senke, die zu einem Bibersee aufgestaut wurde. Es kommt z.B. durch Blaugrüne Bakterien zu einer ganz erheblichen Stickstoffanreicherung in diesem See. Der See verlandet. Auf dem mineralstoffreichen Humosen Boden entwickelt sich zunächst eine üppige Staudenvegetation stickstoffliebender Pflanzen, dann siedeln sich erste Weichhölzer an und ganz zum Schluss kommt es zu einer Wiederbesiedelung durch die ursprünglichen Waldbaumarten.

In Wäldern können solche Zyklen Jahrhunderte, vielleicht sogar Jahrtausende dauern, in anderen Vegetationsformen noch Jahrzehnte.

Natürlich gelten diese Überlegungen auch für Inseln, auch hier sind Veränderungen und kleine Katastrophen eher die Regel as die Ausnahme. Dies müssen keine  ständigen Vulkanausbrüche sein (wie etwa auf Hawai), auch epedemieartig auftretende Krankheiten an dominierenden Baumarten etwa können ganz neue Zyklen einleiten.

„Ein sehr großer Teil der auf der Roten Liste stehenden Pflanzen- und Tierarten unserer Heimat sind an derartige Sukzessionsstadien gebunden“ (Remmert 1984).

Naturschutzmaßnehmen, die einen bestimmten Entwicklungszustand erhalten wollen, sind deshalb oft sehr aufwendig und wenig sinnvoll.

Wenn es darum geht, Biodiversität zu schützen und zu erhalten, können solche eher theoretischen Überlegungen wichtige Voraussetzungen für Planung und Eingriffsoptimierung sein.

Inselökologie und Naturschutz

1984 fand an der Akademie für Naturschutz und Landschaftspflege in Lauffen an der Salzach ein Seminar zum Thema „Inselökologie – Anwendung in der Planung des ländlichen Raumes“ statt. In diesem Seminar kommt der Tierökologe Dr. Hans-Joachim Mader zu der Schlussfolgerung: „Die Landschaften Mitteleuropas weisen eine wachsende Tendenz der Verinselung der einzelnen sie bildenden Landschaftsbestandeile auf. Die Isolationswirkung zwischen den teilweise nur noch als Fragmenten erhaltenen Resten ursprünglicher Landschaftselemente nimmt zu. Damit verliert die Landschaft auch funktional die Eigenschaft eines vielfach engmaschig verbundenen Netzes und entwickelt sich statt dessen zu einem komplex mosaikartigen Nebeneinander existierender Teilstücke.“ Ein Ergebnis dieses Seminars, das dann in der Folge starken Einfluss auf die Landschaftsplanung genommen hat, war, dass der Bedeutung von Hecken und Feldgehölzen als Barrierenabbauer und Vernetzer in diesen Inselarchipelen eine große Rolle zukommt. Weitere Schlagworte, die in der Landschaftsplanung seither eine wichtige Rolle spielen und die letztenendes auf die „Inselökologie“ zurückgehen, sind „Einrichtung von Trittsteinen“ und „Barrierenabbau“. Letzteres führte zu der sinnvollen Einrichtung von Biotopbrücken über Autobahnen (bisher leider nicht in Schleswig-Holstein!).

Einen weiteren Aspekt haben wir bei der Betrachtung der Artenvielfalt von Inseln bisher ganz unberücksichtigt gelassen: Arten sind keine unveränderlichen konstanten Einheiten. Sie verändern sich, sie können sich in neue Arten aufspalten. Damit können auf Inseln ganz neue Lebensgemeinschaften entstehen die nur sehr indirekt mit  Einwanderung und Aussterben begründet werden können. Mit diesem Aspekt wollen wir uns nach der Pause etwas intensiver beschäftigen.

Teil 2: Inseln – Quellen der Vielfalt

Inselendemiten

Ich hatte in diesem Frühjahr während  eines Aufenthalts in Honduras die Gelegenheit, die Karibikinsel Utila zu besuchen. Diese Insel – eine der sogenannten Bay-Islands – wurde lange von Seeräubern, später von freigelassenen Sklaven, bewohnt. Heute ist sie ein beliebtes Urlaubsziel vor allem für Taucher. Die Besonderheit dieser Insel ist eine schwarze Leguanart. Diese Leguan-Art mit dem wissenschaftlichen Namen Ctenosaura bakeri lebt nur auf dieser 12 km² großen Karibikinsel in küstennahen Mangrovewäldern. Das Senckenberg-Museum in Frankfurt und die Frankfurter Zoologische Gesellschaft haben sich dem Schutz dieser Echse angenommen, die angeblich nur noch in etwa 3.000 Exemplaren auf der Insel vorkommen soll. Durch ihre Initiative wurde auf Utila eine Schutzstation für Ctenosaurus bakeri eingerichtet, die gleichzeitig der gezielten Nachzucht der Leguane und der Unterrichtung einheimischer Schulklassen und Touristen in Fragen der Inselökologie und des Naturschutzes dient.

Solche Arten, die nur ein eng begrenztes Areal besiedeln, nennt man Endemiten. Endemiten sind typisch für Inseln. Endemiten der Kanarischen Inseln z.B. sind die Dickblattgewächse der Gattung Aeonium, die dort und nur dort mit über 40 Arten vorkommen, von denen viele auch noch auf einzelne Inseln beschränkt sind. Ein Kanarenendemit ist auch die rötlich blühende und als Liane wachsende Kanaren-Glockenblume (Canaria canariensis) oder der große Kanaren-Natternkopf Echium wildpretii. Bei manchen Arten – wie etwa beim Tëide-Finken –  kann man die Verwandtschaft zu weit verbreiteten Festlandsarten durchaus erkennen. Der Tëide-Fink sieht aus wie ein blaustichiges Foto eines Buchfinken (Abb.).

Besonders berühmt durch die Vielzahl ihrer Inselendemiten wurde das Galapagos-Archipel – nicht zuletzt, weil Charles Darwin diese einsame Inselgruppe auf seiner Weltreise 1834 besuchte und dort wichtige Impulse für die Entwicklung seiner Evolutionstheorie erhielt. Ihm folgten und folgen bis heute viele Biologen  und auch naturkundlich interessierte Touristen.

Galapagosendemiten, von denen immer wieder die Rede ist, sind z.B. die Erdfinken (Gattung Geospiza) , die auch „Darwinfinken“ genannt werden oder die Riesenschildkröten der Art Chelonoides elephantopus, die ebenfalls nur auf den Galapagos Inseln zu finden sind. Darwin berichtet in seinem Reisebericht „Reise eines Naturforschers um die Welt“ ausführlich von den „Elefantenschildkröten“

Unter anderem schreibt er:

Noch habe ich den allermerkwürdigsten Zug der Natur­geschichte dieses Archipels nicht erwähnt; er besteht dar­in, daß von den verschiedenen Inseln in beträchtlichem Maße jede von einer verschiedenen Gruppe von Ge­schöpfen bewohnt wird. Meine Aufmerksamkeit wurde zuerst dadurch auf diese Tatsache gelenkt, daß der Vize­Gouverneur Lawson erklärte, die Schildkröten von den verschiedenen Inseln seien untereinander verschieden, und er könne mit Sicherheit sagen, von welcher Insel irgendeine hergebracht sei. Eine Zeitlang schenkte ich dieser Angabe nicht hinreichende Aufmerksamkeit und ich hatte bereits zum Teil die Sammlungen von zwei der Inseln untereinander gemengt. Es wäre mir doch nicht im Traume eingefallen, daß ungefähr fünfzig oder sech­zig Meilen voneinander entfernt liegende Inseln, die meisten in Sichtweite voneinander, aus genau denselben Gesteinen bestehend, in einem ganz gleichartigen Klima gelegen und nahezu zu derselben Höhe sich erhebend, verschiedene Bewohner haben sollten; wir werden aber sofort sehen, daß dies der Fall ist. Es ist das Geschick der meisten Reisenden, sobald sie entdeckt haben, was an irgendeinem Ort das Interessanteste ist, eiligst fortge­trieben zu werden; ich muß aber gerade dafür dankbar sein, daß ich genügendes Material erhalten konnte, diese äußerst merkwürdige Tatsache in der Verbreitung der organischen Geschöpfe ermitteln zu können.

Irenäus von Eibl-Eibesfeldt schreibt in seinem Klassiker „Galapagos“ über diese Echsen:

Diese Elefantenschildkröten sind Überreste einer einst weit über die Erde verbreiteten Tiergruppe. Die Ordnung der Schildkröten hat sich seit dem Erdmittelalter nur wenig geän­dert. Triassochelys dux aus dem Keuper von Halberstadt hat bereits den typischen Knochenpanzer, der den Körper wie eine Kapsel umschließt. Gewaltige Landschildkröten waren vor 60 Millionen Jahren in Europa, Amerika und Indien beheima­tet. Nach einigen Überresten zu schließen, wogen manche Ex­emplare über eine Tonne. Mit dem Auftreten der wendigen Säuger, die wohl vor allem den Jungen und Eiern nachstellten­  – wie das heute auf Galaipagos die eingeschleppten Säuger tun -, verschwanden die Riesenschildkröten in den meisten Erd­gebieten. Sie hielten sich nur auf einigen ursprünglich von Säu­gern freien Inseln, nämlich auf den Maskarenen im Indischen Ozean und auf den Galapagos-Inseln. Mensch und Haustiere haben diese Bestände dezimiert. Die Maskarenen-Schildkröte konnte sich nur auf Aldabra halten

Die Fauna und Flora von Inseln ist umso eigenständiger – endemischer -, je weiter die Inseln vom nächsten Festland entfernt sind. Im übrigen gilt dies nicht nur für Inseln, sondern auch für inselartige Biotope anderer Art, z.B. für Seen. Besonders berühmt sind die endemischen Buntbarsche alter afrikanischer Seen wie etwa des Malawi-Sees oder des Tanganjika-Sees. Im Tanganjika-See wurden 214 Buntbarsch-Arten nachgewiesen, von denen 80 % nur in diesem See vorkommen. Dabei zeigen gerade die afrikanischen Seen sehr gut, dass die Zahl der Endemiten etwas zu tun hat mit dem Alter der „Insel“. Der Tanganjika-See wird auf ein Alter von 12 Millionen Jahren geschätzt. Der viel jüngere Rudolph-See dürfte erst seit 5 .000 Jahren vom Flusssystem des oberen Nils getrennt sein. In dieser Zeit konnten sich in diesem See immerhin fünf endemische Cichliden-Arten entwickeln.

Vielfalt und Evolution

Charles Darwins Weltbild wurde durch die Galapagoserfahrungen nachhaltig erschüttert. Er begann an der „Konstanz der Arten“ zu zweifeln und über die Gründe nachzudenken, die zu einer Evolution der Lebewesen beitragen könnten. Das Ergebnis war schließlich sein Epochewerk über „Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl…“ das er allerdings erst 1859, 23 Jahre nach der  Rückkehr von seiner Weltreise, veröffentlichte.

Inseln haben also bei der Entwicklung der Evolutionstheorie eine entscheidende Rolle gespielt und mit dieser Rolle wollen wir uns nun noch ein bisschen beschäftigen.

Das größte Wunder unseres Planeten ist die ungeheute Vielfalt der Lebensformen. So zahlreich sind die Arten, dass wir die meisten von ihnen noch gar nicht identifiziert haben. Die Biosphäre bedeckt die Erde mit einem Teppich aus kunstvoll miteinander gekoppelten Lebensformen. Sogar die scheinbar öde arktische Tundra beherbergt viele Tier- und Pflanzenarten einschließlich der mannigfaltigen Gruppe symbiontischer Flechten, die untereinander und mit ihrer Umwelt ein kompliziertes Netz von Wechselbeziehungen aufrecht erhalten.“

Dies sind die ersten Sätze aus dem Vorwort des von Edward O. Wilson herausgegebenen Buches „Ende der biologischen Vielfalt?“. Wie eigentlich ist diese riesige Vielfalt auf der Erde entstanden? Wie hat sich die Biosphäre entwickelt? Eine Erklärung liefert die auf Charles Darwin zurückgehende Evolutionstheorie, die unter Einbeziehung von genetischen Grundlagen zur sogenannten synthetischen Theorie weiter entwickelt wurde. Danach kann man mindestens fünf Prozesse unterscheiden, die für die Veränderung der Arten und damit für die Evolution verantwortlich sind:

1. Mutation und Rekombination

Als Mutation bezeichnet man spontan oder aufgrund bestimmter physikalischer oder chemischer Einwirkung auftretende Veränderungen im Genom. Die Wahrscheinlichkeit für solche Veränderungen ist zwar insgesamt relativ niedrig (da es zahlreiche Reparationsprozesse gibt, die für eine Stabilität der Nucleinsäuren sorgen), da Genome jedoch aus einer sehr großen Zahl von Genen bestehen, ist der Gesamtanteil der Gameten mit mutierten Genotypen hoch. Die genetische Vielfalt durch Mutationen darf nicht unterschätzt werden. Allerdings ist es so, dass die meisten Mutanten eher ungünstig sind und nur relativ wenige günstige Mutationen vorkommen, die dafür sorgen, dass Merkmale entstehen, die ihren Trägern Vorteile bringen. Mutationsraten wirken auf zweierlei Weise auf die Evolution: Sie schaffen einmal neues genetisches Material, das dann den Einwirkungen anderer Evolutionsfaktoren unterliegt und sie verändern zum anderen die Häufigkeit bestimmter Allele im Genpool der Population.

Die Wirksamkeit günstiger Mutationen wird erst durch die Rekombination genetischen Materials, also durch sexuelle Vorgänge im weitesten Sinne, wirklich wirkungsvoll in einer Population umgesetzt. Gerade die jüngsten Erkenntnisse der Genetik sprechen dafür, dass die meisten Gene unseres Genoms schon sehr alt sind und dass Vielfalt und Neuerung vor allem durch neue Kombinationen, Verdoppelungen, Umstellungen usw. zustande kommen.

2. Anpassungsselektion

Die Anpassungsselektion ist der Evolutionsfaktor, der von Darwin als der Motor für die Entstehung der Arten angesehen wurde. Anpassungsselektion heißt, dass bestimmte Individuen einer Population aufgrund ihrer besseren Tauglichkeit mehr Nachkommen haben als andere. Diese unterschiedliche Tauglichkeit oder Eignung der Phänotypen kann sich z.B. auswirken beim Nahrungserwerb, bei der Flucht vor Räubern, bei der Resistenz gegen Parasiten und Krankheitserregern, bei der Resistenz gegen verschiedene Umweltfaktoren, beim Wettbewerb um einen Geschlechtspartner und beim Brutpflegeverhalten. Anpassungsselektion sorgt dafür, dass eine Art sich an ihre Umwelt anpasst oder – anders ausgedrückt – dass sie in ihre Nische passt. Ändert sich die Umwelt, sorgt Anpassungsselektion in einem gewissen Umfang für eine Anpassung an die neuen Verhältnisse. Ist die Änderung zu drastisch, wird dies allerdings normalerweise nicht möglich und die Art wird verdrängt oder stirbt aus. Bei lange anhaltenden gleichen Umweltbedingungen können sich Arten in derselben Form über viele Jahrmillionen erhalten (stabilisierende Evolution). Solche Arten können so alt werden und von verwandten Arten so weit entfernt sein, weil diese alle ausgestorben sind, dass man von lebenden Fossilien spricht. Ein Beispiel dafür wären etwa der Ginkgo-Baum oder die Brückenechse, die nur noch auf einigen kleinen Inseln vor Nord-Neuseeland lebt.

 3. Zufallsselektion

Auch der Zufall – von Evolutionsbiologen auch Gendrift genannt – dürfte bei der Evolution eine entscheidende Rolle spielen. Wie groß der Anteil der Anpassungsselektion im Verhältnis zur Zufallsselektion ist, hängt sicher von den besonderen Bedingungen ab und ist von Fall zu Fall unterschiedlich zu beurteilen. Bis heute ist dies ein Streiitpunkt der Evolutionsforscher. Zufälle dürften auf alle Fälle eine größere Rolle spielen bei kleinen Populationen als bei großen, bei der Neubesiedelung von bisher nicht besiedelten Arealen und bei katastrophenbedingten Veränderungen.

4.Migration

Schließlich wird als weiterer Evolutionsfaktor der Genfluss oder die Migration unterschieden. Bedeutende Änderungen der Genfrequenzen können nämlich durch Abwanderung oder Zuwanderung von Individuen zu einer Population erreicht werden. Dabei unterscheidet man zwischen infraspezifischem Genfluss (dem häufigeren Fall) getrennter Populationen derselben Art und interspezifischem Genfluss (auch Bastardierung genannt). Der zweite Fall ist seltener, dürfte aber vor allem bei Pflanzen eine gewisse Rolle spielen.

5. Isolation

Während alle diese genannten Evolutionsfaktoren zunächst nur zu einer Veränderung innerhalb einer Population führen, ist die Isolation, die Verinselung, der Faktor, der zur Auftrennung der Arten und damit letzten Endes zur biologischen Vielfalt führt.

Evolutionäre Prozesse können auf Inseln wichtiger sein als Einwanderung und Auswanderung. Im Laufe der Erdgeschichte kann die Inselbildung ganz entscheidend zur biologischen Vielfalt beigetragen haben. Denn auch wenn Inseln nach langer Zeit wieder zu Festländern werden, so sind die auf ihnen durch Isolation entstandenen Arten in der Regel so stabil, dass es nicht mehr zu einer Verschmelzung kommen kann.

Ein besonders gutes und gut untersuchtes Beispiel für „Inselevolution“ sind die Fruchtfliegen des Hawai-Archipels. Geologen haben das Alter dieser Vulkaninseln bestimmt. Die älteste mit 5,1 Mill.J. ist Kauai, die jüngste mit ca.0,4 Mill.J. die große Insel Hawai mit noch mehreren aktiven Vulkanen. Auf diesen Inseln leben heute etwa 500 (!!) endemische Fruchtfliegenarten, die alle zur Gattung Drosophila gehören. Sie stammen alle von einem Vorfahr ab, der vor über 5 Mill.J. nach Kauai gelangte. In der Darstellung wird die Entstehungsgeschichte weniger Arten herausgegriffen. Die durchgezogenen Linien deuten die Migration an, die gestrichelten Linien die Anpassungsselektion auf der neuen Insel.

Wie kann man sich nun die Aufspaltung einer Stammart in viele Arten vorstellen? Dies soll an einem einfachen Modell aus drei benachbarten Inseln erläutert werden:

(1)  Eine Insel wird durch eine kleine Kolonie der Art A besiedelt. Der Genpool dieser Teilpopulation ist vom Zufall bestimmt („Zufallsselektion“)

(2)  Vom Genpool der Ausgangspopulation isoliert evolviert diese Inselpopulation in Anpassung an ihre neue Umwelt zu Art B.

(3)  Durch Stürme oder andere Umweltereignisse gelangt Art B auf eine weitere Insel

(4)   Auf dieser zweiten Insel entwickelt sich B zu C.

(5)  Individuen von C besiedeln erneut die erste Insel, können sich jedoch aufgrund genetischer Barrieren mit B nicht mehr vermischen

(6)  C besiedelt auch die dritte Insel

(7)  C bildet auf der dritten Insel Art D

(8)  Art D wird auf die beiden Inseln iherer Vorfahren verdriftet

(9)  Auf der ersten Insel bildet D die neue Art E

(10)              Usw. usw.

So können isolierte Habitate durch dieses Wechselspiel ,kleiner Populationen zu einer starken Artaufspaltung führen, die von Evolutionsbiologen „adaptive Radiation“ genannt wird.

Wie schon angedeutet, kann fehlende Konkurrenz auch zum Überdauern sehr altertümlicher Lebensformen führen. So sind Inseln nicht selten zu letzten Refugien von sehr ursprünglichen, heute isoliert stehenden Arten geworden. Viele solcher „lebenden Fossilien“ sind  vom Menschen in historischer Zeit ausgerottet worden, wie etwa die Dronten auf Mauritius und La Réunion ( ca. 1800) und  die Moas auf Neuseeland (ca. 1650).

Ein solcher noch überlebender Reliktendemit der Insel Neukaledonien östlich von Australien, die Bedecktsamige Samenpflanze Amborella trichopoda, hat in den letzten Jahren eine gewisse Berühmtheit erlangt. Auf Grund von DNA-Analysen hat man einen Stammbaum der Bedecktsamer entwickelt. Bei diesem Stammbaum steht  diese Art ganz isoliert an der Basis des Systems. Sie ist damit  die nächste noch lebende Verwandte der Ursprungsart, die vielleicht vor 150 Millionen Jahre lebte und aus der sich die ganze Vielfalt der „Blütenpflanzen“ von den Wasserlinsen bis zu den Eukalyptusbäumen, rund ¼ Million beschriebener Arten, entwickelte.

Trennung und Verbindung – zur Organisation der Biosphäre

Verinselung ist eine wesentliche Voraussetzung für Biodiversität., allerdings nur, wenn die Isolation nicht vollständig ist, wenn es ein Wechselspiel zwischen Auftrennung und Verbindung geben kann.

Ein solches Wechselspiel hat im größten Maßstab und in erdgeschichtlichen Zeiträumen stattgefunden. Im Laufe der Erdgeschichte hat sich die Verteilung der Festländer und der Ozeane ständig verändert. Als Ursache dieser „Kontinentaldrift“ wurden zyklische Vorgänge in den äußeren Schichten unseres Planeten erkannt, die man mit dem Schlagwort „Plattentektonik“ kennzeichnet. Eine Bilderfolge der letzten 200 Millionen Jahre Erdgeschichte im 50 Millionen-Jahr-Rhythmus mag dies verdeutlichen. In dieser Zeit sind die Dinosaurier aufgeblüht und wieder untergegangen, die Vögel und die Säugetiere haben sich gewaltig entwickelt, ebenso die „Blütenpflanzen“. Die heutige Verteilung der Arten und die Biodiversität so wie sie sich heute darstellt, wurde ganz entscheidend durch diese plattentektonishen Vorgänge bestimmt, die durch Trennung und Verbindung von Festländern und Meeresräumen gekennzeichnet sind.

Aber auch im kleinen und kleinsten Maßstab spielen solche Vorgänge der Isolation und der Verbindung eine wichtige Rolle. Von dem Zusammenspiel der Ökosysteme war schon die Rede, auch von der Wechselwirkung von Populationen einer Art. Innerhalb der Populationen sind es die Individuen, die voneinander klar getrennt und genetisch und morphologisch und physiologisch einzigartig doch zur Eigenart und zum Genpool der Gesamtpopulation beitragen. Und die Individuen, die Einzelorganismen? Auch sie sind zusammengesetzt aus mehr oder weniger autonomen Teilen. Wie könnte man Organe transplantieren, wenn es diese Autonomie nicht gäbe?

Selbst die kleinste Einheit des Lebens, die Zelle, stellt sich im elektronenmikroskopischen Bild als ein Kosmos aus vielen Einzelteilen, als eine Landschaft mit Inseln und Seen, man könnte auch sagen als ein dreidimensionales Labyrinth dar. Biologen sprechen von „Kompartimentierung“. Jedes Kompartiment ist eigentlich eine Insel, aber eine Insel, zu der es Fährverbindungen gibt.

Sind Tannen ein Thema? – Nacktsamer im Biologieunterricht (zu UB 300)

Wilfried  Probst   Vortrag auf der MNU-Tagung Bremerhaven am 20.11.2006

Sind Tannen ein Thema?

Nacktsamer im Biologieunterricht

 

 

Auf einer Fachtagung der Zeitschrift Unterricht Biologie im Mai d. J. wurde über interessante und weniger interessante Titel von Unterricht Biologie-Heften gesprochen. Ein Unterricht Biologie-Heft mit dem Titel ‚Nadelgehölze & Co.’ vom Dezember 2004 wurde als ‚weniger interessant’ eingestuft. Als Herausgeber dieses Heftes bin ich natürlich anderer Meinung und als ich von Frau Bartel gefragt wurde, ob ich zu diesem Thema auf der diesjährigen MNU-Tagung in Bremerhaven einen Vortrag halten will, habe ich freudig zugestimmt. Denn das ist ja eine Gelegenheit für ein entsprechendes Plädoyer.   Als gut wurden auf genannter Tagung z.B. folgende Heftthemen bewertet: Herz und Kreislauf Die Zelle Gene Wirbeltiere Evolutionshefte („alles was mit Evolution zusammenhängt ist gut!“) Struktur und Funktion Stationen Lernen Standards und Kompetenzen Wissenschaft entdecken und begreifen   Natürlich ist es ein wichtiges Ziel des Biologieunterrichts, in all seinen Inhalten den Bezug zum Menschen und zur menschlichen Gesellschaft herzustellen. Humanbiologische Themen sind deshalb wichtig, das will ich nicht bestreiten. Aber Biologie heißt eben nicht „Medizin“ oder „Anthropologie“ oder „Gesundheitslehre“, sondern es geht in diesem Fach auch gerade darum, nichtmenschliches Leben kennen und verstehen zu lernen, u.a. auch deshalb, um danach menschliches Leben umso besser verstehen zu können. Auch allgemeinbiologische Themen, die heute häufig als Basiskonzepte apostrophiert werden, wie Evolution, Struktur und Funktion oder Ökologie sind selbstverständlich wichtig für die Entwicklung eines vernünftigen Curriculums, sie bedürfen aber immer konkreter Beispiele. Dies gilt genauso für „Methodenthemen“ wie „Standards und Kompetenzen“ oder „Wissenschaft entdecken“ oder „Forschendes Lernen“.   Vielleicht liegt es näher, geeignete Beispiele aus dem Bereich der dem Menschen vertrauteren weil verwandten Wirbeltiere zu suchen als die Nacktsamer zum Unterrichtsgegenstand zu machen. Wenn man `mal abwechseln will sind Nadelgehölze  – besonders in der Vorweihnachtszeit – das will ich zeigen – aber auch recht ergiebig.

Nadelgehölze sind gute Beispiele

denn:

  • Nadelgehölze halten Rekorde
  • Nadelgehölze sind die Reptilien unter den Pflanzen
  • Nadelgehölze sind Dokumente der Erdgeschichte
  • Nadelgehölze beeinflussen das Erdklima
  • Nadelgehölze haben wirtschaftliche Bedeutung
  • Nadelgehölze haben kulturgeschichtliche Bedeutung

Zur Kulturgeschichte

Als immergrünes Symbol ewigen Lebens schmücken Koniferen bis heute unsere Friedhöfe, seit einiger Zeit auch die Vorgärten, aber das liegt wohl weniger an der Symbolkraft als daran, dass sie weniger Arbeit machen und langsamer wachsen. In der christlichen Tradition steht der immergrüne Weihnachtsbaum für Wiedergeburt und Unsterblichkeit. Seit vor gut 200 Jahren durch Aufforstung Fichten auch im Flachland Deutschlands häufig wurden, verbreitete sich der Weihnachtsbaum in den Bürgerwohnungen und heute hat er sich über die ganze Welt ausgebreitet. Aber der Brauch hat vorchristliche Wurzeln: Schon die Römer schmückten ihre Häuser zum Jahreswechsel mit immergrünen Zweigen und die antiken Nekropolen wurden schon vor mehr als 2000 Jahren von Zypressen umrahmt. Oh Tannenbaum, oh Tannenbaum kann man deshalb mit Recht als interkonfessionelles oder interkulturelles Weihnachtslied bezeichnen – auch wenn die Tannen oft Fichten sind.  In der Umgangssprache werden diese zwei Gattungen der Familie der Kieferngewächse meist nicht unterschieden, auf Skandinavisch heißen sie auch beide „Gran“. Trotzdem wäre es ein die Allgemeinbildung förderndes Unterrichtsziel, einmal auf die Unterschiede hinzuweisen – vielleicht am Beispiel der üblicher Weise als Weihnachtsbäume angebotenen Arten (was allerdings auch von Jahr zu Jahr gewissen Modeströmungen unterliegt). Eine Hilfe bei der Bestimmung bietet der Beihefter in UB 300. Die wichtigsten Unterschiede zwischen den Gattungen Picea (Fichte) und Abies (Tanne):

  1. Bei der Fichte fallen die herabhängenden Zapfen als Ganzes ab, bei der  Tanne die Schuppen einzeln von der aufrechten Zapfenachse
  2. Die Fichtennadeln haben braune Stielchen, die Tannennadeln grüne basale Scheibchen

Neben dem Buchs sind Nadelgehölze, v.a. Eiben, auch wichtige Elementen der Barockgärten, da sie extreme Beschneidung gut vertragen. Andere wachsen schon so, als wären sie beschnitten, z.B. Zuckerhutfichten oder Zwergfichten,  die man durch vegetative Vermehrung aus Hexenbesen kultiviert hat. Aus Gärtnereikatalogen lassen sich Bestimmungskärtchen für Zierkoniferen basteln,, die man alle bei einem Friedhofsbesuch finden kann. Auf eine interessante geschichtliche Spur führt der Name des Küstenmammutbaumes Sequoia sempervirens, amerikanisch „Redwood“. Diese Art, die mit 135 m auch den Höhenrekord eines Baumes und den Rekord des größten Lebewesens hält, wurde von Lampert 1824 als Taxodium sempervirens beschrieben und 1847 vom Wiener Botaniker und Coniferenspezialisten Endlicher in die eigene Gattung Sequoia gestellt, benannt zu Ehren des Cherokee-Indianers Sequoi Yah, der ganz selbständig eine Schrift für die Sprache der Cherokee entwickelte und 1838 eine Zeitung auf Englisch und Cherokee herausgab – im gleichen Jahr, als dieser Stamm auf Befehl des Präsidenten Martin van Buren aus seiner Heimat vertrieben und zu einem winterlichen Gewaltmarsch über 1500km nach Westen gezwungen wurde, dem Marsch der Tränen, auf dem 4000 von 10 000 der  Vertriebenen umkamen.

 

Rekorde

Nadelgehölze halten Rekorde. Hierher gehören

  • mit der Borstenkiefer aus den trockenen Gebirgszügen Arizonas die Pflanzenart, die das höchste Alter erreicht.
  • mit den Redwoods, den Küstenmammutbäumen in Kalifornien und Oregon und den Mammutbäumen in der Sierra Nevada die höchsten Bäume oder
  • mit Picea obovata und Larix dahurica aus Ostsibirien die kälteresistentesten Bäume, die auch noch an den kältesten bewohnten Orten der Erde, in Oimekon und Werchojansk gedeihen.

 

Menschen lieben Rekorde, deshalb ist es immer interessant, in der Schule mit Rekord haltenden Lebewesen zu motivieren. Aber es geht natürlich nicht nur um den Rekord, denn mit ihm sind besondere ökologische, physiologische und strukturelle Leistungen verbunden. So wie einem Basketballspieler seine langen Beine und Arme nutzen, so nutzen einem großen Baum seine leistungsfähigen Wassertransportsysteme und das Alter der Bäume wird im wesentlichen durch die Widerstandskraft ihres Holzes determiniert. Die Kälteresistenz wird einmal durch die xeromorphen wassersparenden Nadelblätter, vor allem aber durch physiologische Anpassungen, insbesondere spezielle, die Bildung von Eiskristallen hemmende Proteine (Antifrostproteine) bewirkt.

Reptilien unter den Pflanzen

Nadelgehölze sind Nacktsamer, Gymnospermen. Sie nehmen im Pflanzenreich dieselbe Stellung ein, wie die Reptilien bei den Wirbeltieren.. Das soll nun näher begründet werden. Die ersten großen Pflanzen. die im Erdaltertum vor gut 400 Mill.Jahren, im ausgehenden Silur, im Devon und im Karbon die Festländer der Erde eroberten und auch damals schon große Wälder bildeten, waren überwiegend Sporenpflanzen: Urfarne, Farne, Schachtelhalme und Bärlappe. Zwar kam bei den Bärlappen auch schon so etwas ähnliches wie Samenbildung vor, aber parallel dazu entwickeln sich schon im ausgehenden Devon und zu Beginn des Karbons die ersten Nacktsamer aus den Verwandtschaftsgruppen, die man auch heute noch in dieser Kategorie einordnet. Der besondere Vorteil der Samenbildung ist ja eine weitergehende Emanzipation vom Wasser. Die freien Gametophyten, die kleinen Vorkeime der Farnpflanzen, sind auf hohe Feuchtigkeit angewiesen. Die Befruchtung erfolgt über Spermatozoiden im wässrigen Milieu. Bei den Samenpflanzen wird dieses alles ins Innere von festen Hüllen verlegt. Zwar kommt es da zunächst auch noch zur Ausbildung von Spermatozoiden, doch schlüpfen diese erst aus den Mikrosporen, die man nun Pollenkörner nennt, wenn diese auf den Samenanlagen gelandet sind. Die ganze Gametophytengeneration mit dem neuen Sporophytenembryo wird in eine neue Verbreitungseinheit, in den Samen, hineinverlegt. Wie dies stammesgeschichtlich schrittweise vonsttten gegangen ist, kann man sich auf grund von Fossilfunden recht gut vorstellen. Wenn diese Samen dann auch noch mit  Nährstoffvorräten versorgt werden, dann entstehen recht große Gebilde, wie z.B. bei den sogenannten „Palmfarnen“. Diese an Baumfarne und Palmen erinnernden Pflanzen entstanden im Karbon, sie hatten ihre stärkste Verbreitung im Erdmittelalter, in Trias, Jura und Kreide, zusammen mit den Dinosauriern. Es ist deshalb sehr passend, wenn im Arboretum Thiensen bei Ellerhoop eine große Dinosaurierplastik zwischen die ins Freiland ausgepflanzten Cycadeen gestellt wurde. Die heutige reliktartige Verbreitung der Cycadeen deutet übrigens auf die erdgeschichtliche Entwicklung der Kontinente hin. In der Zeit, als diese Pflanzenklasse besonders zahlreich vertreten war, war der große Südkontinent Gondwana eine einheitliche Festlandsmasse, die aus den heutigen Kontinenten Südamerika, Südafrika, Indien und Australien gehörten –  die Gebiete in denen man auch heute noch die meisten Cycadeen findet.

Der etwas irreführende deutsche Name „Palmfarn“ könnte als Aufhänger für einen Unterricht dienen, der am Beispiel dieser lebenden Fossilien den Übergang von  Sporen- zu Samenpflanzen behandelt. Warum der Vergleich mit den Reptilien? Während Moospflanzen und Farnpflanzen mit ihren relativ ungeschützten austrocknungsempfindlichen Gametophyten noch sehr wasserabhängig sind, ist die Samenbildung der entscheidende Schritt zur Emanzipation vom Wasser. Sie hat ihre genaue Entsprechung bei der Entwicklung der Wirbeltiere mit dem Übergang von den Amphibien zu den Reptilien, mit der Bildung der Eihäute (Amnion und Chorion) und trockenheitsresistenter Eier, die nicht mehr ins Wasser abgelegt werden müssen.

Dokumente der Erdgeschichte

Nadelgehölze sind damit Dokumente der Erdgeschichte. Formen, die im Erdaltertum und im Erdmittelalter entstanden sind und weit verbreitet waren, haben sich an einigen Standorten bis heute als „lebende Fossilien“ erhalten. Das gilt nicht nur für die  Palmblatt-Nacktsamer, auch für den Ginkgobaum,  und auch für Nadelgehölze im engeren Sinne, wie Urweltmammutbaum, Araukarie oder die erst vor einem guten Jahrzehnt entdeckte Wollemie Pine.

Nacktsamer und Bedecktsamer

Ich wollte das UB-Heft zunächst „Nacktsamer“ nennen. Das stieß aber auf Widerstand bei der Redaktion, da man meinte, der Begriff wäre irreführend und niemand könnte damit das verbinden, was gemeint wäre. Nun ist es aber so, dass diese Bezeichnung für die ganze Pflanzengruppe charakteristischer ist, als die Bezeichnung „Nadelgehölze“ oder „Koniferen“ (=“Zapfenträger“). Denn weder nadelförmige Blätter noch die Ausbildung von zapfenartigen Fruktifikationsorganen ist auf diese Gruppe beschränkt und außerdem gibt es eben, wie gesagt Verwandte, die ganz anders aussehen. Die genannten Palmfarne, die man besser palmblättrige oder wedelblättrige Nacktsamer nennen sollte, sind ein Beispiel. So bizarre Gestalten wie Welwitschia mirabilis aus der Namib Wüste, die schachtelhalmähnlichen Ephedra-Arten oder die wie normale Laubbäume aussehenden Gnetum-Arten wären andere Beispiele. Selbst bei den Nadelgehölzen im engeren Sinne gibt es Bäume, die wie normale Laubbäume aussehen, etwa die sogenannte Kauri-Fichte in Australien. Das entscheidende gemeinsame Merkmal dieser Gruppe ist also tatsächlich die Anordnung und der Aufbau der Samenanlagen und Samen. Diese Gebilde sitzen bei den Nacktsamern offen am Ende von kurzen Sprossen  wie bei der Eibe – oder auf Schuppen. Im Gegensatz dazu sind sie bei den Bedecktsamer in einen Fruchtknoten eingeschlossen, der aus einem oder mehreren Fruchtblättern gebildet wird. Diese heute viel artenreichere Gruppe entstand aber erst vor etwa 150 Mio. Jahren, nachdem es schon  rund 200 Mio. Jahre lang Samenpflanzen, nämlich Nacktsamer, gegeben hatte.   Die Samenanlagen und Samen sind sehr nährstoffreich. Manche schmecken auch den Menschen gut, wie Pinienkerne oder Zirbelnüsse. So war es sicher eine sinnvolle Erfindung der Evolution, diese Leckereien vor Fressern besonders zu schützen: die Bedecktsamer machen das durch das Einhüllen in die Fruchtblätter. Wie das am Anfang ausgesehen hat, das kann man heute z.B. noch bei den Magnolien sehen. Der eigentliche Vorteil dieser Umhüllung stellte sich – wie oft bei Evolutionsabläufen – aber erst danach heraus: Er lag in der großen morphologischen Plastizität der Fruchtblätter, die zu den ungeheuer vielen Fruchttypen mit den verschiedensten Verbreitungsmechanismen führte. So wie bei den Bedecktsamern der Fruchtknoten empfindlichen Samenanlagen vor dem Gefressenwerden schützt, so haben die Koniferen, die Zapfenträger, einen sehr kompakten Samenstand ausgebildet, bei dem die Samen zwischen den Schuppen des Zapfens ebenfalls sehr gut geschützt sind. Bei manchen Pyrophyten (Feuerpflanzen) sind diese Zapfen so fest geschlossen, dass sie nur durch einen Waldbrand geöffnet werden können – z.B. bei Pinus contorta.   Solche Nadelholzzapfen sind ästhetisch ansprechende Sammelobjekte. Die Samenschuppen sind in sehr regelmäßigen Spiralen angeordnet und zwar so, dass normalerweise nie zwei Schuppen übereinanderstehen, sie bilden keine Orthostichen, sondern Spirostichen, Spiralen. Der Winkel zwischen zwei Blattanlagen beträgt ca. 137° 30’. Dieser „Limitdivergenzwinkel“ teilt den Kreis im Goldenen Schnitt.   Nach botanischer Definition sind Blüten endständige Sporophyllstände. Samen enthalten Megasporangien, die Schuppen könnte man also als Megasporophylle auffassen. Dann wären Zapfen Blüten. Nun sitzen aber oft zwischen den Samenschuppen Deckschuppen – besonders auffällig z.B. bei der Douglasie. Die Erklärung hierfür liefern Fossilien aus dem späten Erdaltertum, z.B. die Gattung Lebachia: Samenschuppen sind aus Kurzsprossen entstanden, die Deckschuppen sind die dazugehörigen Tragblätter. Danach sind Koniferenzapfen Blütenstände, jede Schuppe mit den zwei Samenanlagen ist eine Einzelblüte.

Erdklima und Stoffkreislauf

Man sollte jedoch nicht meinen, Nadelgehölze wären in der Gegenwart versprengte und vereinzelte Relikte. Auch heute noch gibt es riesige Nadelwälder, die durchaus für den Stoffkreislauf der Biosphäre und damit auch für das Erdklima bedeutend sind. Ich meine die riesigen borealen Nadelwälder, die sich von Kanada und Alaska über Sibirien bis nach Skandinavien erstrecken, teilweise über mehr als 20 Breitengrade. Ihre Ausbreitung oder Zurückdrängung hat wegen der gespeicherten Kohlenstoffmengen erheblichen Einfluss auf das Erdklima. Die unüberlegte Ausbeutung der Redwood- und Mammutbaumwälder in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war Ausgangspunkt für die Naturschutzbewegung in den Vereinigten Staaten und auf der ganzen Welt und der Anlass für die Gründung der ersten Nationalparks. Noch heute sind die letzten Nordamerikanischen Urwälder, vor allem in Kanada, von unüberlegter kommerzieller Nutzung bedroht und Naturschutzorganisationen wie Greenpeace kämpfen um ihren Erhalt.

Wirtschaft

Zweifelsohne haben Nadelgehölze eine große wirtschaftliche Bedeutung. Viele Arten wachsen schnell, schneller als die meisten Laubbäume und gerade für die Papierproduktion sind sie deshalb besonders wichtig. Auch das Harz von Nadelgehölzen war lange Zeit ein wichtiger Rohstoff und bis heute zeugen viele Ortsnamen und Familiennamen davon. Besonders viele mitteleuropäische Namen sind mit der Kiefer verbunden: Familiennamen wie Kiefer, Kienke, Künast, Kienast, oder Ortsnamen wie Kienitz, Kienbaum, – waren doch Kienspäne lange Zeit die wichtigste Beleuchtung für arme Leute. Auch der vormals wichtige Rohstoff Pech (Harz) wurde von Pechern v.a. aus Schwarz-Kiefer gewonnen. Die Waldkiefer ist der Baum des Jahres 2007. Wirtschaftliche Ausbeutung von Urwäldern betrifft nicht nur die tropischen Regenwälder sondern bis heute auch Wälder der gemäßigten Zonen, z.B. immer noch in Kanada. In Südchile wurde das Pendant zum Küstenmammutbaum, die Alerce (Fitzroya cupressoides), die ebenfalls riesengroß und uralt werden kann, durch Raubbau praktisch ausgerottet. Ihr äußerst widerstandsfähiges Holz wächst sehr langsam

Entdeckungen

Immer wieder gab es in der Neuzeit Entdeckungen von Nadelholzarten, die der Wissenschaft bis dahin verborgen geblieben waren. Die erste dieser spektakulären Neuentdeckungen war der Ginkgo-Baum, der schon 1690 von dem Japan-reisenden Arzt Engelbert Kämpfer zum ersten Mal beschrieben wurde. Dann folgten Küsten-Mammutbaum und Berg-Mammutbaum im 18. und 19. Jahrhundert und im 20. Jahrhundert der Urweltmammutbaum sowie 1994 in den Blue Mountains – knapp 200 km von der Metropole Sidney entfernt – Wollemia nobilis, die sogenannte .Wollemie-Pine, ein Araukariengewächs, das man zuerst fossil entdeckt hatte, ganz ähnlich wie den Urweltmammutbaum aus China. Jüngste Nadelbaumentdeckung des 21. Jahrhunderts ist die vietnamesische Goldzypresse (Xanthocyparis vietnamensis), die 2002 von englischen und vietnamesischen Botanikern in einem abgelegenen Berggebiet Vietnams nahe der chinesischen Grenze entdeckt wurde. Zu all diesen Entdeckungen gibt es interessante spannende Geschichten, die mittlerweile auch im Internet leicht zugänglich sind.   Damit bin ich am Ende meines Vortrags, der Ihnen nur einen kurzen Einblick in das Themenkaleidoskop der Nacktsamer geben konnte. Mehr findet sich in dem UB-Heft 300 und natürlich im Internet.

Zurück zur Basis?

Wilfried Probst

Manuskript für einen Vortrag, der am 19.11.2007 auf der MNU-Tagung in Bremerhaven gehalten werden sollte, aber wg. Erkrankung  des Referenten ausfallen musste

 

Zurück zur Basis – Können Basiskonzepte den Biologieunterricht verbessern?

 

Charakteristisches Merkmal des Menschen ist es, Traditionen zu bilden, Erlerntes weiterzugeben. Lernen durch Lehren ist ganz entscheidend für die Sonderstellung von Homos sapiens verantwortlich. Das meinte auch Newton mit seinem Ausspruch „Ich habe weiter gesehen, weil ich auf den Schultern von Giganten stand“.  „Lehrer“ bzw „Lehrerin““ ist deshalb der urmenschlichste Beruf.

Jeder der lehrt, macht sich auch Gedanken darüber, wie er das anstellen soll. Dazu muss er sich in den Lerner hineindenken. Dabei hilft ihm, eine zweite typisch menschliche Eigenschaft: die Fähigkeit, sich in andere hineinversetzen zu können, und damit die Fähigkeit , über das Lernen und Denken nachzudenken und über das Nachdenken über das Lernen und Denken nachzudenken usw. kurz, die Stufenleiter der Metawissenschaften zu erklimmen. Weiterlesen

Verformbare Schlüssel

„Auf jedem Topf passt ein Deckel“. Dieser vor allem für zwischenmenschliche Beziehungen angewandte Spruch gilt auch für bestimmte Bereiche der Biochemie und der Molekularbiologie. Geradezu als ein Dogma galt lange Zeit, dass die dreidimensionale Struktur eines Proteins seine Funktion bestimmt. Ein spezifisch geformtes Enzym passt zu seinem speziellen Substrat wie ein Schlüssel in ein Schloss.

Dieser Vorstellung von molekularem Schlüssel und Schloss liegt die Erkenntnis zu Grunde, dass die Primärstruktur eines Proteins, das heißt die Abfolge seiner Aminosäuren, bereits die Information über die Tertiärstruktur, also die räumliche Anordnung der Aminosäurekette in sich trägt. Doch diese Erkenntnis gerät zunehmend ins Wanken. So hat man zum Beispiel festgestellt dass etwa 40 % aller menschlichen Proteine zumindest einen ungeordneten Abschnitt enthalten, der aus 30 Aminosäuren besteht und dessen Lage im Raum nicht festgelegt ist. Darüber hinaus ist bei etwa einem Viertel der Proteine die gesamte Raumstruktur nicht von Anfang an festgelegt und dadurch sehr variabel. Diese Erkenntnisse wurden in der Proteinchemie lange Zeit vernachlässigt, da ungeordnete Proteinketten nicht kristallisieren und deshalb einer Röntgen-Strukturanalyse nicht zugänglich sind.

Doch nun hat die Erkenntnis über „ungeordnete Proteine“ so dramatisch zugenommen, dass sich immer mehr Chemiker und Biologen damit beschäftigen müssen. Eine steigende Anzahl von Befunden sprechen gegen die Annahme einer durchweg geltenden starren Struktur-Funktions-Beziehung. Erste Zweifel an der durchgängigen Gültigkeit des „Schlüssel-Schloss-Prinzips“ kamen auf, als im Jahre 1999 die Molekularstrukturforscher WRIGHT und DYSON in einem Review über NMR-spektroskopische Daten zur Proteinstruktur dargelegten, dass eine beachtliche   Zahl von Proteinen trotz ihres zumindest teilweise ungeordneten Zustandes funktionieren.

Daraus ergibt sich eine grundlegende Frage: Wie ist es möglich, trotz flexibler Struktur einen Erkennungsprozess zu erreichen? Wie kann ein verformbarer Schlüssel in ein festes Schloss passen? Eine mögliche Antwort wurde 2007 von Kenji SUGASE gefunden. Der Schlüssel gewinnt seine Form erst in Kontakt mit dem Schloss. SUGASE fand dieses Prinzip an einem genregulatorischen Protein heraus, das bei vielen Regulationsprozessen einschließlich des Lernens und des Gedächtnisses eine wichtige Rolle spielt. Dieser als CREB bezeichnete Regulator benötigt, wenn er erst einmal an die DNA gebunden hat, ein zweites als CBP bezeichnetes Protein, bevor er ein Gen ein- oder ausschalten kann. Durch zeitlich hochauflösende NMR-Spektroskopie konnte nachweisen, dass das gesamte Regulatorprotein durch das Zusammenwirken mit CBP erst in die Form schnappt, die für die Funktion notwendig ist. Ein solcher Vorgang des Umklappens einer Proteinstruktur in eine andere wurde schon viel früher bei der Wirkung pathogener Prionen auf normale Prionen aufgedeckt. Damals hielt man diese Entdeckung für eine Ausnahme, etwas ganz besonderes. Nun scheint sich die Erkenntnis durchzusetzen, dass ein solcher und Umklapp- oder Formungsprozess bei globulären Proteinen etwas ganz normales ist.

Das Struktur-Funktions-Paradigma wurde auch durch weitere Entdeckungen  erschüttert: Das Signalprotein Sic 1 ist ein wichtiger Regulator des Zellzyklus. Es verhindert die Replikation der DNA so lange, bis die Zelle zur Teilung bereit ist. Dann wird es abgebaut und gibt den Weg zur Replikation frei. Das Protein bildet eine größere Zahl unterschiedlicher Konformationen, die in einem ständigen dynamischen,Gleichgewicht miteinander stehen. An sechs verschiedenen Positionen seiner Kette kann es Phosphatgruppen anlagern. Wenn alle Stellen phosphoryliert sind, kann es mit einer beliebigen dieser sechs phosphorylierten Positionen an ein Enzym binden, das seinen Abbau bewirkt.

Ein solches Wirkprinzip ist besonders vorteilhaft für so genannte Drehscheibenproteine (hub-proteins). Der Tumor-Supressor p53 ist ein gutes Beispiel dafür. Dieser Supressor ist sehr häufig in menschlichen Krebszellen aktiv. Die Erklärung für seine sehr unterschiedliche Wirkung scheint in seinen vielen verschiedenen möglichen Strukturen begründet zu sein. Seine Kerndomäne ist globulär, seine seitlichen Flügel sind mehr oder weniger ungeordnet und können an hunderte verschiedene Signalmoleküle binden.

Kritiker der Theorie von der ungeordneten Proteinstruktur weisen vor allem auf folgendes Problem hin: Ungeordnete Proteinstrukturen (Aminosäurefäden) können in der Zelle nicht stabil sein, da sie Proteasen breite Angriffsflächen bieten. Dem entgegnen die Theoriebefürworter, dass die meisten Protease nicht frei im Zellplasma vorliegen sondern in besondere Kompartiment, z. B. Lysosomen, eingeschlossen sind.

So entsteht allmählich eine neue Vorstellung von den Zusammenhängen zwischen Protein-Primär-, Sekundär- und Tertiärstruktur und Proteinfunktion. Vermutlich gibt es sowohl ganz rigide Schloss-Schlüssel-Mechanismen wie auch ganz variable Spaghetti-Proteine und alle Übergänge dazwischen. Auch an diesem Beispiel zeigt sich, dass der Lebensprozess ein gewisses Maß an Unordnung nicht nur erträgt, sondern benötigt, um seine vielfältigen Funktionen ausführen zu können.

Möglicherweise wird man eines Tages genau vorhersagen können, welche Aminosäuresequenz für eine ganz fest gefügte Tertiärstruktur und welche für eine variable verantwortlich ist, und für welche Regulations- und Steuerungsprozesse die eine, für welche die andere von Vorteil ist bzw. benötigt wird.

Literatur

Chouard, T.: Breaking the protein rules. Nature 471: 151-153, 10.3.2011