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Verformbare Schlüssel

„Auf jedem Topf passt ein Deckel“. Dieser vor allem für zwischenmenschliche Beziehungen angewandte Spruch gilt auch für bestimmte Bereiche der Biochemie und der Molekularbiologie. Geradezu als ein Dogma galt lange Zeit, dass die dreidimensionale Struktur eines Proteins seine Funktion bestimmt. Ein spezifisch geformtes Enzym passt zu seinem speziellen Substrat wie ein Schlüssel in ein Schloss.

Dieser Vorstellung von molekularem Schlüssel und Schloss liegt die Erkenntnis zu Grunde, dass die Primärstruktur eines Proteins, das heißt die Abfolge seiner Aminosäuren, bereits die Information über die Tertiärstruktur, also die räumliche Anordnung der Aminosäurekette in sich trägt. Doch diese Erkenntnis gerät zunehmend ins Wanken. So hat man zum Beispiel festgestellt dass etwa 40 % aller menschlichen Proteine zumindest einen ungeordneten Abschnitt enthalten, der aus 30 Aminosäuren besteht und dessen Lage im Raum nicht festgelegt ist. Darüber hinaus ist bei etwa einem Viertel der Proteine die gesamte Raumstruktur nicht von Anfang an festgelegt und dadurch sehr variabel. Diese Erkenntnisse wurden in der Proteinchemie lange Zeit vernachlässigt, da ungeordnete Proteinketten nicht kristallisieren und deshalb einer Röntgen-Strukturanalyse nicht zugänglich sind.

Doch nun hat die Erkenntnis über „ungeordnete Proteine“ so dramatisch zugenommen, dass sich immer mehr Chemiker und Biologen damit beschäftigen müssen. Eine steigende Anzahl von Befunden sprechen gegen die Annahme einer durchweg geltenden starren Struktur-Funktions-Beziehung. Erste Zweifel an der durchgängigen Gültigkeit des „Schlüssel-Schloss-Prinzips“ kamen auf, als im Jahre 1999 die Molekularstrukturforscher WRIGHT und DYSON in einem Review über NMR-spektroskopische Daten zur Proteinstruktur dargelegten, dass eine beachtliche   Zahl von Proteinen trotz ihres zumindest teilweise ungeordneten Zustandes funktionieren.

Daraus ergibt sich eine grundlegende Frage: Wie ist es möglich, trotz flexibler Struktur einen Erkennungsprozess zu erreichen? Wie kann ein verformbarer Schlüssel in ein festes Schloss passen? Eine mögliche Antwort wurde 2007 von Kenji SUGASE gefunden. Der Schlüssel gewinnt seine Form erst in Kontakt mit dem Schloss. SUGASE fand dieses Prinzip an einem genregulatorischen Protein heraus, das bei vielen Regulationsprozessen einschließlich des Lernens und des Gedächtnisses eine wichtige Rolle spielt. Dieser als CREB bezeichnete Regulator benötigt, wenn er erst einmal an die DNA gebunden hat, ein zweites als CBP bezeichnetes Protein, bevor er ein Gen ein- oder ausschalten kann. Durch zeitlich hochauflösende NMR-Spektroskopie konnte nachweisen, dass das gesamte Regulatorprotein durch das Zusammenwirken mit CBP erst in die Form schnappt, die für die Funktion notwendig ist. Ein solcher Vorgang des Umklappens einer Proteinstruktur in eine andere wurde schon viel früher bei der Wirkung pathogener Prionen auf normale Prionen aufgedeckt. Damals hielt man diese Entdeckung für eine Ausnahme, etwas ganz besonderes. Nun scheint sich die Erkenntnis durchzusetzen, dass ein solcher und Umklapp- oder Formungsprozess bei globulären Proteinen etwas ganz normales ist.

Das Struktur-Funktions-Paradigma wurde auch durch weitere Entdeckungen  erschüttert: Das Signalprotein Sic 1 ist ein wichtiger Regulator des Zellzyklus. Es verhindert die Replikation der DNA so lange, bis die Zelle zur Teilung bereit ist. Dann wird es abgebaut und gibt den Weg zur Replikation frei. Das Protein bildet eine größere Zahl unterschiedlicher Konformationen, die in einem ständigen dynamischen,Gleichgewicht miteinander stehen. An sechs verschiedenen Positionen seiner Kette kann es Phosphatgruppen anlagern. Wenn alle Stellen phosphoryliert sind, kann es mit einer beliebigen dieser sechs phosphorylierten Positionen an ein Enzym binden, das seinen Abbau bewirkt.

Ein solches Wirkprinzip ist besonders vorteilhaft für so genannte Drehscheibenproteine (hub-proteins). Der Tumor-Supressor p53 ist ein gutes Beispiel dafür. Dieser Supressor ist sehr häufig in menschlichen Krebszellen aktiv. Die Erklärung für seine sehr unterschiedliche Wirkung scheint in seinen vielen verschiedenen möglichen Strukturen begründet zu sein. Seine Kerndomäne ist globulär, seine seitlichen Flügel sind mehr oder weniger ungeordnet und können an hunderte verschiedene Signalmoleküle binden.

Kritiker der Theorie von der ungeordneten Proteinstruktur weisen vor allem auf folgendes Problem hin: Ungeordnete Proteinstrukturen (Aminosäurefäden) können in der Zelle nicht stabil sein, da sie Proteasen breite Angriffsflächen bieten. Dem entgegnen die Theoriebefürworter, dass die meisten Protease nicht frei im Zellplasma vorliegen sondern in besondere Kompartiment, z. B. Lysosomen, eingeschlossen sind.

So entsteht allmählich eine neue Vorstellung von den Zusammenhängen zwischen Protein-Primär-, Sekundär- und Tertiärstruktur und Proteinfunktion. Vermutlich gibt es sowohl ganz rigide Schloss-Schlüssel-Mechanismen wie auch ganz variable Spaghetti-Proteine und alle Übergänge dazwischen. Auch an diesem Beispiel zeigt sich, dass der Lebensprozess ein gewisses Maß an Unordnung nicht nur erträgt, sondern benötigt, um seine vielfältigen Funktionen ausführen zu können.

Möglicherweise wird man eines Tages genau vorhersagen können, welche Aminosäuresequenz für eine ganz fest gefügte Tertiärstruktur und welche für eine variable verantwortlich ist, und für welche Regulations- und Steuerungsprozesse die eine, für welche die andere von Vorteil ist bzw. benötigt wird.

Literatur

Chouard, T.: Breaking the protein rules. Nature 471: 151-153, 10.3.2011