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Der symbiotische Planet – Lynn Margulis (5.3.1938 – 22.11.2011) eröffnete eine neue Sicht auf das Leben und die Erde

Im Botanischen Großpraktikum an der Universität Tübingen hörte ich 1965 zum ersten Mal von einer alten aber recht abstrusen Theorie, die 1883 von A. F. W. Schimper in die Welt gesetzt worden war. Danach sollten Chloroplasten und andere Plastiden aus endosymbiotischen Blaualgen hervorgegangen sein. Es wurde uns damals von unserem Dozenten gesagt, dass diese Hypothese sehr weit hergeholt wäre und wenig Widerhall gefunden hätte. Nach modernen Erkenntnissen müsste man sie als sehr unwahrscheinlich ansehen. Fasziniert hat mich der Gedanke damals trotzdem.

1967 erschien der Aufsatz von Lynn Sagan (so hieß Margulis damals noch nach ihrem ersten Ehemann, dem Astrophysiker Carl Sagan) „On the origin of mitosing cells“. Die Arbeit war von zahlreichen Publikationsorganen zurückgewiesen worden, ehe sie schließlich vom Journal of Theoretical Biology angenommen wurde. Ihm folgte dann 1970 die Buchpublikation „Origin of Eukaryotic Cells„, die den Durchbruch brachte. Von beiden Publikationen erfuhr ich erst deutlich später. Und dann habe ich allmählich auch viele andere Werke von Lynn Margulis gelesen. Ich war immer wieder fasziniert von ihrem unkonventionellen Stil und ihren überraschenden Gedankengängen und Schlussfolgerungen. So hat mich die Lektüre ihres gemeinsam mit Karlene V. Schwartz herausgegebenen Buches „Five Kingdoms: An Illustrated Guide to the Phyla of Life on Earth“ (1987) dazu veranlasst, meine Lehrveranstaltung „Die Abteilungen des Pflanzenreiches“ in „4 aus 5“ umzubenennen.

Heute hat die Endosymbiontentheorie Eingang in alle Lehrbücher und viele Schulbücher gefunden. Sie gilt als gesichert und fundiert und dies ist vor allem Lynn Margulis zu verdanken. Margulis erhielt für ihre Forschungen die National Medal of Science des US Präsidenten, die Darwin-Wallace Medal der Linnean Society, London, und den William Procter Prize for Scientific Achievement. Sie wurde nicht nur Mitglied der US-amerikanischen sondern auch der Russischen Akademie der Wissenschaften, in die außer ihr bisher nur drei andere US-Amerikaner aufgenommen wurden. Dies lag sicherlich auch daran, dass sie in ihren Arbeiten an die russischen Symbioseforscher des frühen 20. Jahrhunderts erinnerte und diese in der westlichen Welt überhaupt erst bekannt machte. Sie bezeichnete die von Forschern wie Konstantin S. Mereshkowsky, Boris M. Kozo-Polyansky oder Ivan E. Wallin vertretenen Ansichten mit dem von dem im englischen Exil lebenden Russen Peter Kropotkin als Ergänzung zu Darwin gedachten Werk „Mutual Aid“ als „Mutual-Aid-Biology“. Trotz ihres großen Erfolges kann man die Powerfrau bis heute nicht eigentlich zum Establishment der Biologen und Naturwissenschaftler zählen. Immer wieder schockte sie ihre Kollegen mit ungewöhnlichen Ideen, mit denen sie außerhalb des etablierten Wissenschaftsgebäudes lag. Ihr oberstes Ziel war es, die Kooperation unter den Organismen als wichtigsten Motor der Evolution zu etablieren und an die Stelle der von Neodarwinismus und der synthetischen Theorie ganz in den Vordergrund gestellten Konkurrenz zu setzen. Der Symbiogenese als Artbildungs- und Evolutionsprozess vor allem auf der Stufe der Mikroorganismen und Prokaryoten widmete sie einen Großteil ihrer Forschungen und ihrer Publikationen, die sich auch an eine breitere Öffentlichkeit wandten, dann häufig in Coautorenschaft mit ihrem Sohn aus erster Ehe Dorion Sagan. So ist es auch gut verständlich, dass sie schon früh als Protagonistin der von Lovelock aufgestellten Gaia Hypothese auftrat.
Auch ist es deshalb nicht verwunderlich, dass Lynn Margulis dem horizontalen Gentransfer eine große Bedeutung für die Evolution zugemessen hat, was sich bis heute in mancher Hinsicht zu bestätigen scheint. In jedem Falle haben ihre Gedanken und Ideen den Vorstellungen vom Leben auf der Erde und seiner Evolution viele ganz neue Impulse gegeben. Nicht ganz verständlich für mich ist, dass Margulis sich sehr kritisch zur „natürliche Selektion“ als Evolutionsfaktor geäußert hat, weil sie dies als „Abwertung“ der Symbiogenese ansah. Es geht doch aber darum, herauszufinden ob Konkurrenz oder Kooperation bei der Wirksamkeit der natürlichen Selektion wichtiger sind. Trotzdem ist nicht ganz zu verstehen, wie heftig Lynn Margulis deswegen von etablierten Evolutionsbiologen angegriffen wurde und wird.

Schließlich muss auch erwähnt werden, dass Margulis in den letzten Jahren einige ziemlich einhellig als eher abwegig anzusehende Hypothesen im Zusammenhang mit dem Immunsystem aufgestellt hat, unter anderem hat sie auch Zweifel daran geäußert, dass Aids vorwiegend auf eine Virusinfektion zurückzuführen sei. Sehr angegriffen wurde sie auch dafür, dass sie sich 2009 für die Veröffentlichung einer Arbeit von Donald I. Williamson in den renommierten Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS) einsetzte, die in der Fachwelt großen Widerspruch erregte. Der Autor versucht in dieser Arbeit nachzuweisen, dass die Metamorphose der Insekten auf die Hybridisierung zweier verschiedener Arten zurückzuführen ist. Er nimmt an, dass auch andere Entwicklungen, die über ein Larvenstadium laufen, aus solchen Hybridisierungen entstanden sind.

Seit 1988 lehrte und forschte Lynn Margulis an der University of Massachusetts Amherst. Es gelang ihr, gleichzeitig und gleichermaßen intensiv und engagiert zu forschen, zu lehren und vier Kinder aufzuziehen.
So sehr sie nun vermisst werden wird, so beruhigend ist doch, dass sie in ihren zahlreichen Publikationen weiter präsent bleibt.

•  Literatur von und über Lynn Margulis im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek

https://portal.dnb.de/opac.htm?query=Woe%3D115464654&method=simpleSearch