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Karl Kuhn (1934 – 2014) und Johann Amos Comenius (1592 – 1670)

Am 21. Oktober 2014 wäre Karl Kuhn, bis 1999 Professor für Didaktik der Biologie an der Pädagogischen Hochschule Freiburg, 80 Jahre alt geworden. Ich war zu dem Geburtstag eingeladen. Doch am 15. Juli erhielt ich einen Brief von Karl, indem er mir mitteilte, dass dieser Geburtstag nicht mehr gefeiert werden wird: “Meine Zeit ist abgelaufen“ teilte er mir mit. Da er Verdauungsprobleme hatte, war er zum Arzt gegangen und es stellte sich heraus, dass er Leberkrebs in einem fortgeschrittenen Stadium hatte. Nachdem man ihm die Prozedur einer möglichen Operation und die damit verbundenen Heilungschancen erklärt hatte, entschloss er sich, diesen Eingriff nicht vornehmen zu lassen. Man prophezeit ihm ein maximale Überlebenszeit von sechs Wochen und das traf auch ziemlich genau zu. Am 23. August 2014 ist Karl Kuhn in seinem Haus in Eichsel am Dinkelberg, in dem er fast 50 Jahre gelebt hatte, im Kreise seiner Familie gestorben.

Von Karl Kuhn habe ich gelernt, dass guter Unterricht, und speziell guter Biologieunterricht, eher eine Kunst als eine Wissenschaft ist. Diese Kunst ist – teilweise zumindest – erlernbar, wie alle anderen Künste auch. Sie ist aber nur schwer messbar und objektiv bewertbar, lebt von subjektiven Erfahrungen, zwischenmenschlichen Beziehungen, Emotionen. Mit Methoden der empirischen Sozialforschung lässt sich nur in sehr begrenztem Maße herausfinden, wie ein gelungener Unterricht aussehen muss.
Durch Karl wurde mir deutlich, dass unmittelbaren Erfahrungen, wie sie mit Beobachtungen und Experimenten verbunden sind, und Naturbegegnungen und -erlebnisse im Freien unvergleichliche Instrumente für guten Biologieunterricht sind. Solche Möglichkeiten stehen in anderen Fächern gar nicht oder in viel geringerem Maße zur Verfügung, auf sie zu verzichten bedeutet, auf die entscheidende Motivationsmöglichkeit für Biologie zu verzichten.

Karl war ein Beweis dafür, dass Neugier und Offenheit für unterschiedlichste Wissensgebiete nicht zu Oberflächlichkeit, sondern im Gegenteil eher zu einem tieferen Verständnis führt, als einseitige Spezialisierung. Er konnte sich immer wieder für neue Themen begeistern und seine neuen Entdeckungen auch begeisternd weitergeben. Noch mit fast 79 legte er sich mit seinem Enkel drei Nächte lang im Feldbett auf eine Geländekuppe bei Eichsel unter den klaren Sternenhimmel, um die Sternschnuppen der Perseiden zu beobachten.
Zu den nicht unbedingt beliebtesten Pflichtveranstaltung von Lehramts-Studierenden gehörte (und gehört?) eine in der Regel als Seminar abgehaltene Veranstaltung „Didaktik der Biologie“, in der meist auch ein historischer Abriss gegeben wird, der häufig mit dem „Vater der Didaktik“ Johann Amos Comenius beginnt. Karl Kuhn hatte die originelle Idee, diese etwas trockene Materie dadurch lebendig zu gestalten, dass er Comenius auferstehen und in einem Interview zu Wort kommen ließ. Da dieses „Schauspiel“ nie veröffentlicht wurde, möchte ich es hier im Andenken an meinen Lehrer und Freund Karl Kuhn zugänglich machen:

Karl Kuhn
Ein Gespräch mit JOHANN AMOS COMENIUS

Anmerkungen zu dem Schauspiel

Art des Schauspiels
Ich habe versucht, ein Schauspiel in der Art zu schreiben, wie es Comenius getan hat. Es waren keine Theaterstücke in unserem heutigen Sinn, sondern Lehrstücke, bei denen die Texte aufgesagt wurden, ohne dass sich die Schauspieler sehr bewegten. Auch in dem vorliegenden Schauspiel wird mehr deklamiert als gespielt mit dem Ziel, zu informieren.

Zum Inhalt
In dem Schauspiel soll die Zeit des Dreißigjährigen Krieges mit wenigen Strichen nachgezeichnet werden (Musik, Literatur, Baukunst, Zeitgenossen) und in Zusammenhang mit dem Lebenslauf von Comenius gebracht werden. Der Schwerpunkt liegt bei den didaktischen Arbeiten von Comenius, die über weite Strecken zitiert werden.

Zur Stoffauswahl
Bei der Auswahl des Stoffes habe ich versucht, Überlegungen und Gedanken von Comenius aufzunehmen, die für uns heute noch grundlegend sind. Vollständig lässt sich das Gedankengut von Comenius nicht darstellen, so dass die Auswahl nicht fest liegt und von den Darstellern verändert werden kann. Es können Texte dazu kommen oder gestrichen werden, die Anordnung der einzelnen Passagen kann verändert werden. Dadurch würde der Text nur gewinnen und den Erwartungen der Studierenden wahrscheinlich mehr entsprechen. Z. B. könnte die Schulszene aufgenommen werden, die V.J. Dieterich zitiert (p. 93). Auf jeden Fall sollten Sie sich in der angegebenen Literatur umsehen.

Zur Darstellung
Bei den beiden letzten Aufführen hat sich gezeigt, dass die Zuhörer zu Beginn nicht recht wussten, was das Ganze soll. Die Darsteller sollten vor der Aufführung das Publikum in das Stück einführen.

J O H A N N  A M O S  C O M E N I U S

1. Sprecher
Wir schreiben das Jahr 1645. Europa ist verwüstet. Seit 1618 ziehen katholische und protestantische Kriegshorden plündernd und brandschatzend durch das Land, in einem Krieg, den spätere Generationen den Dreißigjährigen Krieg heißen werden.

2. Sprecher
Liebe Brüder,
vertrieben aus Böhmen, unsere Städte und Dörfer niedergebrannt, versammeln wir uns im Verborgenen hier als Flüchtlinge, als Asylanten in Polen. Wir bitten um Gottes Schutz, dass dieser Ort den Katholiken nicht bekannt werde, da uns sonst allen der sichere Tod bevorstehen würde.

3. Sprecher
Lasst uns in Gedanken zurückgehen zu dem Ursprung unseres protestantischen Glaubens.

• 1517 schlug Martin Luther an der Schlosskirche zu Wittenberg seine Thesen an.
• Ein Jahrhundert später:
1618 begann mit dem Fenstersturz zu Prag der Dreißigjährige Krieg.

Dazwischen lag die Zeit der Reformatoren: Zwingli in Zürich,
Calvin in Genf.
Es war die Zeit der Sekten und des Bauernkrieges.

Es war aber auch die Zeit der Renaissance (15./16. Jhd.), die das Mittelalter ablöste und die man später als Beginn der Neuzeit bezeichnet hat.
– Kopernikus, Galilei, Kepler begründen ein neues Weltbild.
– Kolumbus entdeckt am 12. Oktober 1492 die Antilleninsel Guananhani, Cuba und Haiti.
– Der Humanismus löst die Scholastik ab.
– Erasmus von Rotterdam (1467-1536) lehnt die Spaltung er Kirche ab und ist ein Feind Luthers. Trotzdem lebt er lange Zeit in dem protestantischen Basel und verlegt dort seine Bücher. Erst im Alter wird er ausgewiesen und findet hier in dem katholischen Freiburg seine Zuflucht.

2. Sprecher
Liebe Brüder,
ich habe die Ehre, Euch einen Mitbruder vorzustellen. Viele von Euch werden ihn vom Namen her kennen. Es ist unser Bruder im Herrn Johann Amos Comenius.

Ihr wisst, Bruder Johann gilt als einer der gelehrtesten Männer unserer Zeit …

Comenius
Halt ein! Halt ein! Ich muss widersprechen! `Die mich näher kennen, wissen, dass ich ein Mann von schwachem Verstande und geringer Gelehrsamkeit bin.`(Gr. Did. 1985 p. 14)

2. Sprecher
Sei beruhigt Bruder Johann, wir kennen Deine Bescheidenheit.

1. Sprecher
Vergegenwärtigen wir uns das Curriculum vitae unseres Gastes!

Am 28. März 1592 wurde Jan Komenský als Sohn des angesehenen Bürgers Martin Komenský und seiner Frau Anna in der ostmährischen Ortschaft Nivnice geboren. Mit 10 Jahren verlor Jan seinen Vater, mit 11 Jahren seine Mutter und zwei Schwestern. Eine Tante nimmt das Waisenkind auf und Jan kommt nach Stranice im südlichen Mähren.

Als Jan 13 Jahre alt ist, wird der Ort überfallen und niedergebrannt. Er kommt zu seinem Vormund nach Nivnice zurück, einem Müller. Er lernt das bäuerliche und handwerkliche Leben kennen und fasst selbst bei der Arbeit mit an. Eine Schule besucht er nicht. Mit seiner Heimat ist er tief verbunden.

Comenius
Ja, meine Heimat habe ich sehr geliebt. ‚Das Paradies der Erde ist Europa. Das Herz Europas ist Deutschland und Deutschlands Herz ist Böhmen. Ein Land, wo Milch und Honig fließen’.

1. Sprecher
Jan macht eine kleine Erbschaft. Da wird der 16-jährige von seinem Vormund auf die Höhere Schule der Brüder in Perrau geschickt. Bereits nach 3-jährigem Schulbesuch ist er reif für die Universität.

2. Sprecher
Bruder Jan, vermutlich blickst Du mit Dankbarkeit auf Deine Schulzeit zurück.

Comenius
Im Gegenteil, wie hasse ich die Schule, in der ich nur gepaukt und gepaukt habe, in der Verbalismus an Stelle von Realismus geherrscht hat. ‚Von vielen Tausenden bin auch ich einer, ein armes Menschenkind, dem der liebliche Lebensfrühling, die blühenden Jugendjahre mit scholastischen Flausen verdorben wurden … Ach wie oft hat der Schmerz mich ausrufen lassen: – Brächte doch Jupiter mir die verflossenen Jahre zurück -. Aber das sind vergebliche Wünsche. Der Tag, der verstrichen ist, kommt nicht zurück. Keiner von uns, der seine Jahre hinter sich hat, wird wieder jung und lernt, sein Leben aufs neue zu beginnen und sich mit besserer Ausrüstung dafür zu versehen: da ist kein Ausweg. – Nur eines bleibt und eines ist möglich, dass wir die Hilfe, die wir den Nachkommen leisten können, wirklich leisten. Haben wir nämlich gezeigt, in welche Irrtümer uns unsere Lehrer hineingestürzt haben, so müssen wir zeigen, auf welchem Weg man diese Irrtümer vermeiden kann.’(Dietr. p. 13)

2. Sprecher
Die einst glanzvolle Universität Prag lag danieder, durch theologische Kämpfe um die hussitischen und lutherischen Lehren erschöpft. Deshalb zog Jan neunzehnjährig im Jahre 1611 an die neu gegründete calvinistische Hochschule in Herborn und immatrikulierte sich für Theologie. Professor Alsted beeindruckte ihn durch seine enzyklopädischen Bemühungen und durch den Gedanken einer großen Weltharmonie. Von ihm lernt Comenius eine wirkungsvolle Arbeitstechnik: Der Professor lässt seine Studenten Zitate notieren (Computer gab es nicht!) und anschließend ordnen. Nach diesem Zettelkastensystem hat Comenius zeitlebens gearbeitet.

1. Sprecher
Zwei Jahre später immatrikuliert sich Comenius an der calvinistischen Universität Heidelberg.

2. Sprecher
Bruder Jan, in Herborn hat Du Dir den zweiten Namen Amos zugelegt, so dass ich Dich Johann Amos nennen muss. Schon nach einem Jahr in Heidelberg hast Du Deine Studien beendet. Warum so rasch?

Comenius
Das war nicht mein Entschluss, war ich doch erst 22 Jahre alt. Die Unität, das ist die Brüderschaft, hatte für eine Promotion kein Geld und legte auf äußere Titel keinen Wert. Ich kehrte in meine Heimat zurück. „Ich legte den Weg von Heidelberg nach Prag ausschließlich zu Fuß zurück, bewahrt durch die Begleitung eines Schutzengels und durch eine unverwüstliche Konstitution. Die Ursache war, dass von dem Reisegeld nicht mehr viel zurückgeblieben war und dass ich mir gerade durch die Bewegung die Genesung von einer Krankheit erhoffte, eine Hoffnung, die mich nicht täuschen sollte.“ (Dietrich p. 23)

1. Sprecher
Fahren wir fort, den Lebenslauf von Johann Amos Comenius weiter zu verfolgen.

Nach seiner Rückkehr in Mähren wurde ihm die Leitung der Schule in Perrau übertragen, derselben, die ihm noch vor nicht langer Zeit entlassen hatte. Er schrieb dort unter anderem eine Grammatik und Wortkunde seiner böhmischen Muttersprache.

Mit 24 Jahren empfängt er die Weihen als Pfarrer der Unität. – Nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges 1648 wird er, im Alter von 56 Jahren, zum leitenden Bischof der Unität gewählt.

2. Sprecher
Gehen wir der Reihe nach vor: 1618 brach der große Glaubenskrieg aus. Spanische Truppen besetzten das Land. Comenius und seine Brüder mussten sich verbergen. Seuchen brachen aus, die seine Frau und die beiden Kinder dahinrafften. Comenius musste seinen Wohnort mehrfach wechseln. Er flüchtete nach Polen und fand für sich und die Brüder in der Stadt Lissa Asyl. Er unterrichtete dort an einer Adelsschule.

Comenius
„Um die Schwierigkeiten des Exils zu bewältigen, sah ich mich zur Schultätigkeit gezwungen.“ (Dietrich p. 50) Ich ärgerte mich darüber, dass man mich, den studierten Theologen und erfahrenen Pädagogen, zu Beginn am Gymnasium nicht eigentlich als Lehrer , sondern nur als Lehrgehilfe einsetzte. Ich musste den Unterricht der kleinen Kinder übernehmen. Aber acht Jahre später wurde ich dann Rektor an dieser Schule.

Es hat mir die Zeit sehr erleichtert, dass ich nicht nur unterrichten musste, sondern auch noch das Amt als Pfarrer und Prediger der Gemeinde hatte.

Ich hoffte auf eine baldige Rückkehr in die Heimat und bereitete für diese Zeit einen Schulplan vor.

1. Sprecher
Bruder Amos, ich denke, dass Du aus reiner Begeisterung und mit Feuereifer daran gegangen bist, als Pädagoge Dein Hauptwerk, die Didactica Magna, zu verfassen.

Comenius:
So könnte es scheinen, aber „ich bekenne, ich habe oft bereut, dass ich versprochen habe, diese Sache auszuarbeiten, anstatt meine ganze Zeit dem Studium der Natur zu widmen. Es verdrießt mich sehr, mich mit den Worten abzumühen, diese Wortklauberei, wie ich selbst ironisch zu sagen pflege. Aber was soll ich tun? Die Erwartungen unter der Lehrerschaft sind eine Tatsache.“ (Dietrich p. 82) Weiterhin schreibe ich auch aus finanzieller Not und erhoffe mir einen Gewinn von meinen Büchern.

2. Sprecher
Es entsteht hier die tschechische Fassung der „Didaktik“ (1628-1630). Bald darauf entsteht die lateinische Sprach- und Sachkunde „Janua linguarum reserata“, die sich schnell durchsetzt und bald und oft neu aufgelegt wird. Zwei Jahre später folgt das Lehrbuch für die Schulanfänger „Vestibulum januae linguarum“.

Die Arbeiten von Comenius werden über die Grenzen hinaus bekannt. Er erhält  Einladungen nach England, Holland und Schweden. Richelieu in Frankreich will mit seiner Hilfe eine pansophische Schule gründen, liegt aber bald danach auf dem Sterbebett.

Comenius trifft sich in Holland mit Descartes, der seine Arbeiten früh verfolgt hat, ihm aber vorwirft, er vermische Vernunft- und Offenbarungswahrheiten.

1. Sprecher
Nach dem Westfälischen Krieg reist Comenius nach Siebenbürgen. Er versucht dort den Schulstoff in dialogische Form zu gießen und von den Schülern aufführen zu lassen.

Der berühmte „Orbis pictus“ entsteht hier.

Auch in Polen ist keine Bleibe. 1655 bricht der schwedisch-polnische Krieg aus, zu dem Comenius Schweden ermuntert hatte. Lissa mit dem Haus von Comenius wird zerstört, seine Bücher und all seine Habe öffentlich verbrannt.

Comenius findet 1656 in Amsterdam Asyl, wo er bis zu seinem Tode bleibt.

Comenius
„Mein Leben war ein Wandern, eine Heimat hatte ich nicht. Es war ein ruheloses, fortwährendes Umhergeworfenwerden, niemals und nirgends fand ich einen festen Wohnsitz. (Dietrich p. 31)

1. Sprecher
Lieber Bruder Johann,
nachdem wir von Deinem Leben gehört haben, möchten wir noch einige Fragen an dich stellen und bitten Dich darum, aus Deiner großen Erfahrung und Deinem Wissen uns Auskunft zu erteilen.

Wer stellt die erste Frage?
(Anmerkung: Die Fragen sind unter den Zuhörern auf kleinen Zetteln verteilt, so dass die Fragen vom Publikum gestellt werden.)

1. FRAGE
Bruder Johann, wie stellst Du Dich zur Entwicklungspsychologie? Wie soll man kleine Kinder und wie die älteren unterrichten?

Comenius
Dies habe ich mir zum obersten Prinzip gemacht: „Aller Lehrstoff muss den Altersstufen gemäß so verteilt werden, dass nichts zu lernen aufgegeben wird, was das jeweilige Fassungsvermögen übersteigt“ . Innerhalb der Schule soll deshalb die nach Jahrgängen gestufte Klasseneinteilung herrschen.

Ich teile die Kindheit und Jugend in vier Stufen zu jeweils sechs Jahren ein; dies führt zu einem viergliedrigen Schulsystem:

I. Die Schule der Kindheit sei:
Der Mutterschoß (1.-6. Jahr)
II. Die des Knabenalters:
Die Grund- oder Öffentliche Muttersprachschule (7.-12. Jahr)
III. Die der Jünglingszeit:
Die Lateinschule oder das Gymnasium (13.-18. Jahr)
IV. Die des beginnenden Mannesalters:
Universität oder Reisen (19.-24. Jahr) (Gr. Did. p. 186)

2. FRAGE
Wie sollen denn die Mütter ihre Kinder erziehen?

Comenius
Darüber habe ich mir Gedanken gemacht und dies in dem Informatorium der Mutterschul niedergeschrieben.
„Das Informatorium der Mutterschul, das ist ein richtiger und augenscheinlicher Bericht, wie fromme Eltern sich teils selbst, teils durch ihre Ammen, Kinderwärterin und andere Mitgehilfen ihr allerteuerstes Kleinod, die Kinder, in den ersten sechs Jahren, ehe sie den Präzeptoren übergeben werden, recht vernünftiglicht, Gott zu Ehren, ihnen selbst zu Trost, den Kindern aber zur Seligkeit auferziehen und üben sollen“. (Dietr. p. 59)

2. Sprecher
Mit dieser Schrift hat Comenius die erste größere eigenständige Abhandlung über die Erziehung im Vorschulalter überhaupt verfasst.

3. FRAGE
Wie sollen wir in der Grundschule verfahren?

Comenius
Ich denke, Bruder, mit der Grundschule meinst Du die Schule des Knabenalters. Die Kinder sind dann 6 Jahre alt und besuchen diese Schule 6 Jahre lang.

„Die Durchführung sei angenehm, so dass alles sozusagen wie im Spiele geschehe, und zwar ständig

1. durch eigene Anschauung
2. durch eigenes Aussprechen
3. durch eigenes Tun
4. durch eigenen Gebrauch.

Es soll den Kindern also gestattet sein,
1. alles zu sehen, hören und zu betasten
2. alles auszusprechen, zu lesen und zu schreiben
3. alles nachzubilden und zu tun
4. alles zu ihrem Nutzen zu verwenden“ (Pamp.Kap. X p 289)

5. FRAGE
Gibt es nach Deiner Meinung, Bruder Amos, eine Methode, die sich besonders eignet?

Comenius
„Die jungen Menschen sind noch ungeschickt im Umgang mit der Sachenwelt; darum müssen sie in diesem Alter besonders treue und tüchtige Lehrer haben. Das gilt auch darum, weil die ersten Fundamente eines Gebäudes und die ersten Grundlinien eines Gemäldes gut ausgeführt sein müssen; denn wie der Anfang, so wird alles. Der Lehrer für die unterste Klasse sei darum weiser als die anderen; man sollte ihn deshalb durch bessere Bezahlung gewinnen.“ (Pamp. 283)

6. FRAGE
Ja , mit der Bezahlung sind wir gleich einverstanden. – Ich denke, wir sollten auch nur ganz wenige Kinder in kleinen Gruppen unterrichten.

Comenius
Das sehe ich ganz und gar nicht so.
„Ich behaupte, es ist nicht nur möglich, dass ein Lehrer (magister) eine Gruppe von etwa hundert Schülern leitet, sondern sogar nötig, weil dies für die Lehrenden wie Lernenden weitaus am angenehmsten ist. Jener wird ohne Zweifel mit um so größerer Lust sein Tagewerk verrichten, je zahlreicher die Schar ist, die er vor sich erblickt (wie denn auch die Bergleute in einer reichen Mine die Hände freudiger regen); und je eifriger er selbst ist, desto lebhafter wird er seine Schüler machen. …

Außerdem kann es leicht geschehen, wenn der Lehrer (doctor) nur von wenigen gehört wird, dass dies oder jenes an den Ohren aller vorübergeht; hören ihm aber viel zu, so erfasst jeder soviel er kann, und bei den nachfolgenden Wiederholungen kommt alles noch einmal zur Sprache und allen zu gut, da sich ein Geist an dem anderen, ein Gedächtnis am anderen entzündet. Kurz, wie der Bäcker mit einem Teigkneten, einem Ofenheizen viele Brote bäckt …. der Buchdrucker mit einem Schriftsatz hundert oder tausend Bücher druckt: gerade so kann ein Schulmeister (ludi magister) mit denselben wissenschaftlichen Übungen ohne besondere Mühe eine sehr große Schülerzahl zusammen mit einem mal unterrichten. …“ (Gr. Did. p. 122)

7. FRAGE
Wie kann ein einziger Lehrer für eine so große Schülerzahl ausreichen?

Comenius
Es genügt „ein einziger Lehrer für die größte Schülerzahl, wenn er nämlich

I. die Gesamtzahl in Gruppen, z. B. je zehn Schülern unterteilt, über jede Gruppe einen Aufseher setzt, über die wieder andere bis zuoberst;
II. niemals einen allein unterrichtet, weder privat, außerhalb der Schule noch während des öffentlichen Unterrichts in der Schule, sondern gleich alle zusammen. Er soll also zu niemandem besonders hingehen und nicht dulden, dass einer besonders zu ihm hinkomme, sondern auf dem Katheder bleiben, (wo er von allen gehört und gesehen werden kann) und wie die Sonne seine Strahlen über alle verbreiten. Alle aber sollen ihm Auge und Ohr und ihre Aufmerksamkeit zuwenden und alles aufnehmen, was er vorträgt, vormacht oder vorzeigt. …“ (Gr. Did. p. 122)

8. FRAGE
Bruder Comenius, wie soll dann Deiner Meinung nach eine Schule eingerichtet sein?

Comenius
„Die Schule selbst soll eine liebliche Stätte sein, von außen und von innen den Augen einen angenehmen Anblick bieten: Innen ein helles, sauberes Zimmer, das rundherum mit Bildern geschmückt sein soll. Die Bilder können berühmte Männer darstellen oder auch geschichtliche Ereignisse, es können auch Landkarten sein oder irgendwelche Embleme.

Draußen soll nicht nur ein Platz vorhanden sein zum Springen und Spielen, denn dazu muss man den Kindern Gelegenheit geben, sondern auch ein Garten, in den man sie ab und zu schicken soll, dass sie sich im Anblick der Bäume, Blumen und Gräser freuen können. Wenn es so eingerichtet ist, kommen die Kinder wahrscheinlich nicht weniger gern in die Schule als sie sonst auf Jahrmärkte gehen, wo sie immer etwas Neues zu sehen und zu hören hoffen. (Gr. Did. p. 100)

9. FRAGE
Wie führen wir die Schüler an die Natur heran? Wie steht es mit der Freilandbiologie?

Comenius
…“wenn man die Schüler im Frühling aufs Feld oder in den Garten führt, ihnen die Arten der Kräuter zeigt und sie in ihren Kenntnissen wetteifern lässt, so wird sich nicht zur zeigen, wer eine natürliche Neigung zur Botanik hat, sondern die Flamme einer solchen Neigung wird gleich geschürt.“

10. FRAGE
Immer wieder hören wir, wir sollten „ganzheitlich“ unterrichten. Wir haben damit Schwierigkeiten und wissen oft nicht recht, was damit gemeint ist. Hast du Dir auch darüber Gedanken gemacht?

Comenius
Dies ist in der Tat eine schwierige Frage. Ich muss gestehen, ich habe mich lange mit dieser Frage beschäftigt. In der Pampaedia habe ich 6 Kapitel dieser Frage gewidmet. OMNES – OMNIA – OMNINO, diese drei Worte sind schon zu einem Markenzeichen für mich geworden. Es geht „hier also darum, dass dem ganzen Menschengeschlecht, das Ganze, gründlich – pantes, panta, pantos – Omnes, Omnia, Omnino – gelehrt werde. „ (Pamp. p. 15)

Ich möchte hier noch ein klein wenig erläutern, was ich damit meine:

Die Lehrer des Ganzen

…(es) „muss nun alle Sorgfalt darauf verwandt werden, dass die Schüler aus den Schulen nicht nur gelehrte Bücher davontragen, sondern dass ihr Geist, ihr Herz, ihre Sprache und ihre Hand wirklich veredelt sind, dass sie ihr Leben lang die Weisheit nicht in Büchern, sondern in ihrem Innern bewahren und ihrem Tun bezeugen.“ … (Pamp. p. 169)

„Der wahre Lehrer muss seine Lehrkunst unter dem dreifachen Gesichtspunkt ansehen:

1. braucht er Einsicht in das Ganze (universalitas), damit jedermann das Ganze lehren kann.
2. Schlichtheit, um mit sicheren Mitteln sicher zum Ziele zu kommen,
3. Frische (spontaneitas), um alles angenehm und lustig zu machen wie im Spiel. (Pamp. p 173)

11. Frage
Wir verstehen immer noch nicht ganz, was Du meinst. Kannst du etwas deutlicher sagen, was du meinst?

Comenius
Ich greife hier nur einen Punkt heraus, nämlich den, der sich auf die Sachwelt bezieht:

1. Man muss die Sachen wissen
2. Man muss Einsicht gewinnen (in ihre Gründe)
3. und man muss sie gebrauchen.

Die Sachen wissen heißt, das Sein der Dinge im Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Berühren anerkennen. – Den Kindern soll man darum die Sinne schärfen. – (Pamp. 326/27)

Ich will es nochmals anders sagen:
“Alles soll, wo immer möglich , den Sinnen vorgeführt werden, was sichtbar dem Gesicht, was hörbar, dem Gehör, was riechbar, dem Geruch, was schmeckbar, dem Geschmack, was fühlbar, dem Tastsinn. Und wenn etwas durch verschiedene Sinne aufgenommen werden kann, soll es den verschiedenen zugleich vorgesetzt werden.“ (Kap. 20.6) (Gr. Did. p. 135)

Einsicht in die Sachenwelt gewinnen heißt, Wissen und Einsicht in die Sachen zu einem lebensnotwendigen Zwecke verwenden. Wie nach dem Willen des Schöpfers nichts sinnlos sein soll, so soll auch nichts umsonst gewusst und eingesehen werden.

12. FRAGE
Wie sollen wir den vielen Stoff an die Schüler herantragen?

Comenius
Alles, was von den Sachen in der Schule gelehrt wird, bedarf der Anschauung. Hier gehe ich neue Wege und habe mich mit diesem Problem ausführlich beschäftigt.

„Wenn die Dinge selbst nicht zur Hand sind, was immer am besten sein wird, so kann man Stellvertreter verwenden: Modelle oder Bilder, die zu Unterrichtszwecken angefertigt worden sind.

Der menschliche Organismus z. B. würde nach diesem Vorschlag höchst anschaulich gelehrt, wenn man die Knochen des menschlichen Skeletts (wie sie in den Universitäten echt oder aus Holz aufgewahrt werden) umgeben würde mit aus Leder gefertigten, mit Wolle ausgestopften Muskeln, Sehnen, Nerven, Venen und Arterien samt den Eingeweiden, Lunge, Herz, Zwerchfell, Leber, Magen und Gedärm: alles an seinem Ort und in den richtigen Proportionen, jeweils mit Aufschriften von Benennung und Funktion. Führt man im naturwissenschaftlichen Unterricht einen Schüler vor dieses Schaustück und erklärt und zeigt ihm alles einzeln, so wird er alles spielend begreifen und daraus den Bau seines Körpers verstehen. Derartige Anschauungsmittel (d. h. Nachbildungen von Dingen, die man selbst nicht haben kann) müssten für alles Wissenswerte angefertigt werden und in allen Schulen zur Hand sein. Kostet dies auch etwas Geld und Arbeit, so wird sich doch die Mühe reichlich lohnen.“ (Gr. Did. 135-137)

13. FRAGE
Nicht immer wird aber eine Sache zu beschaffen sein, was sollen wir dann tun?

Comenius
Auch ich habe mir dieses überlegt. Deshalb habe ich ein Schulbuch verfasst, das in deutscher und lateinischer Sprache geschrieben ist. Fein säuberlich sind die Bilder aus Holz geschnitten. Das Buch enthält alles, was es auf der Erde gibt und ist vortrefflich geeignet, den Kindern die Welt näher zu bringen.

Sprecher
Nur so nebenbei, Goethe hat als Knabe dieses Buch besessen und später sehr gerühmt, da es ihm anschaulich das Wissen der Welt vermittelt habe.

15. FRAGE
Bruder Amos, nach all dem, was wir nun von Dir gehört haben, wirst Du ein erfolgreicher und hochgeachteter Lehrer gewesen sein. Erfolg und Ruhm wird Dir wohl von allen Seiten zu Teil geworden sen.

Comenius
Lieber Bruder, Du verkennst die Welt und du kennst nicht die Realität in der Schule. Ich meine die Einstellung der Lehrer zu den Kindern und der Pädagogik ist Dir wohl fremd. Zwar fand ich Anerkennung und Ruhm im Ausland und in der Fremde, aber an meiner Schule in Sarospatak bin ich gescheitert.

„Meine Methode zielt insgesamt darauf ab, dass die Tretmühle Schule in Spiel und Vergnügen verwandelt wird. Das will hier niemand in den Kopf. Den freien Geist behandeln sie geradezu wie einen Sklaven, sogar beim Adel. Die Lehrer gründen ihre Autorität auf eine strenge, finstere Miene, auf harte Worte und sogar auf Prügel …“ (Dietrich p. 96)

16. FRAGE
Zum Schluss noch eine Frage, die uns alle sehr interessiert, die wir doch Lehrer werden wollen. Eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung: Wie siehst du das Verhältnis von Didaktik und Fachwissenschaft?

Comenius
Das war für mich noch nie eine Frage und dazu habe ich eine ganz eindeutige Meinung:

„Denn wenn man auch jede Art und Weise des Vortrags beherrscht, aber die Dinge, die man untersuchen oder empfehlen will, nicht genau kennt, wird man weder mit der Untersuchung noch mit der Empfehlung etwas erreichen. Wie eine Jungfrau ohne Schwangerschaft nicht gebären kann, so kann auch einer einen Gegenstand nicht vernünftig besprechen, den er nicht zuvor kennen gelernt hat“. (Gr. Did. 201).

1. Sprecher
Lieber Bruder Amos, deine Einstellung verwundert mich, aber vielleicht hast Du Recht. Sicher ist, wenn du dich mit dieser Auffassung an der PH Freiburg bewerben willst, dann rate ich dir, dich nicht bei den Pädagogen im Fachbereich I, sondern bei den Naturwissenschaften im Fachbereich III zu bewerben, da du sonst keine Chance hast.

2. Sprecher

Ich bin ganz sicher, dass wir noch viele Fragen stellen könnten. Doch schon schwirrt uns der Kopf.

Bruder Johann Amos wir danken dir, dass du den weiten Weg nicht gescheut hast und trotz Gefahr für Leib und Leben zu uns gekommen bist. Noch lange werden wir darüber nachzudenken haben, was du uns hier vorgetragen hast. Zum Glück ist alles, was du gesagt hast, veröffentlicht, und wir können Deine Gedanken Wort für Wort nachlesen.

LITERATUR
Comenius: Pampaedia. Heidelberg 1960
Comenius: Große Didaktik. Hrsg.: A. Flitner,. Düsseldorf-München 1970
Comenius: Informatorium der Mutterschul. Reprint. Heidelberg 1962
Comenius: Orbis sensualium pictus. Reprint. Dortmund 1978
Dietrich, V. J.: Johann Amos Comenius. rororo Monographie 1991
Flitner, A.: Leben und Werk des Comenius. In Comenius, Große Didaktik.
Anmerkung:
Textstellen von Dietrich und Flitner, die in die Dialoge eingeflochten sind, sind nicht besonders gekennzeichnet.