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Chicken Wings und Chiasamen – auf Entdeckungsreise im Supermarkt

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Überlegungen zu einem geplanten Schüler-Kompakt von Unterricht Biologie

Die Frage der richtigen und gesunden Ernährung ist in unserer Überflussgesellschaft ein wichtiges und von Medien und Öffentlichkeit viel diskutiertes Problem. Sie ist wirklich ein Problem, aber nicht zuletzt ein Überflussproblem. Kurz gesagt scheint die Lösung einfach:

Esst wenig Zucker, Fett, Fleisch und viel Salat, Obst, Gemüse

Mit dieser einfachen Richtlinie ließen sich viele Ernährungsprobleme lösen. Aber das große Angebot macht die Realität für den Konsumenten ziemlich komplex und wenn man Schülerinnen und Schüler im Unterricht auf diese komplexe Wirklichkeit vorbereiten will, kommt man nicht umhin, die Frage nach der gesunden und nachhaltigen Ernährung auch in einer gewissen Komplexität zu bearbeiten. In der Sprache der zeitgemäßen Didaktik formuliert: Es gelingt sonst nicht, dass Schülerinnen und Schüler die Kompetenz entwickeln, sich gesund, umweltverträglich und nachhaltig zu ernähren.

Wie kann man SchülerInnen motivieren, sich einen Überblick über diese Vielfalt des Nahrungsmittelangebots in den Verbrauchermärkten zu  verschaffen und vernünftige, auf Fachkenntnissen beruhende Kaufentscheidungen zu treffen? Das Ziel: Die SchülerInnen sollen Verbraucherkompetenz entwickeln. Die Gefahr: Der deutlich erhobene Zeigefinger wirkt so, dass der Unterricht nicht ernst genommen wird bzw. langweilt. Eine motivierende Möglichkeit könnten Exkursionen in Kauflandschaften sein, bei denen die Entdeckungen von neuen Angeboten und unbekannten Produkten zu weiteren Recherchen und Informationen führen. Deshalb sollen die Beispiele in dem geplanten Kompakt von Unterricht Biologie insbesondere neuere Angebote und Werbestrategien in den Blick nehmen.

Konsumenten und Produzenten

Versuchen wir uns die komplexe Situation vorzustellen:

Produzent und Konsument

Ein Problem für den Konsumenten ist  die Vielfalt des Angebotes und die Vielfalt der (Werbe-)Informationen, denen er sich gegenüber sieht. Wie kann man SchülerInnen motivieren, sich einen Überblick über diese Vielfalt  zu verschaffen und sich um vernünftige, auf Fachkenntnissen beruhende Entscheidungen zu treffen?

Wenn der Verbraucher eine Kaufentscheidung für ein bestimmtes Nahrungsmittel im Supermarkt trifft, denkt er zunächst einmal daran, ob ihm das zu Kaufende schmecken wird, also an seinen Genusswert. Bei der Produktion des Nahrungsmittel hat der Produzent dieses natürlich auch im Blick, aber der entscheidende Gesichtspunkt für den Produzenten ist die Frage, ob er mit einem bestimmten Produkt auch Gewinn machen kann. Dabei spielt die Werbung eine entscheidende Rolle, also zum Beispiel die Verpackung, die Aufschriften usw.  (Motto: Mehr scheinen als sein).

Die Tendenz, möglichst billig zu produzieren, wird durch gesetzliche Bestimmungen beschränkt. Dabei kommt es immer wieder zu Übertretungen und die Medien berichten gerne von solchen Lebensmittelskandalen. Verbraucherorganisationen sind bestrebt, den Gesetzgeber dazu zu bringen, gesetzliche Vorschriften strenger zu fassen. Dabei können Ihnen die  Konsumenten  als Wähler helfen. Umgekehrt versucht die Lobby der Lebensmittelhersteller den Gesetzgeber so zu beeinflussen, dass diese Vorschriften nicht zu streng ausfallen.

Zwar hat der Verbraucher durchaus eine gewisse Macht. Seine Kaufentscheidung kann dazu beitragen, dass gesündere, auf sozial und ethisch verträglichere Weise produzierte Lebensmittel angeboten werden. Die Vielfalt des Angebots und die Vielfalt der Werbeinformationen und Berichte in den Medien über Gesundheit oder Schädlichkeit von Nahrungsmitteln ist jedoch oft schwer durchschaubar.

Qualitätsmerkmale aus Verbrauchersicht

Wenden wir uns nun noch einmal den Qualitätsmerkmalen zu, auf die ein Verbraucher bei einem Nahrungsmittel schauen könnte oder sollte.

Der Genusswert umfasst alle Eigenschaften, die man beim Essen mit den Sinnen wahrnehmen kann, also Aussehen, Geruch, Geschmack und Konsistenz, zum Beispiel die Reife einer Frucht oder die Frische eines Gemüses. Er wird aber auch von subjektiven Empfindungen bestimmt.

Der Gesundheitswert wird auch als ernährungsphysiologischer Wert bezeichnet. Er wird einerseits durch den Gehalt an Nährstoffen, Vitaminen, Mineralstoffen und Ballaststoffen bestimmt, andererseits von enthaltenen gesundheitsgefährdenden oder gefährlichen Stoffen und Keimen. Die Gesundheit von Nahrungsmitteln wird besonders intensiv für die Werbung genutzt. Es wird zum Beispiel versucht, den gesundheitsbewussten Konsumenten durch Nahrungsmittel mit speziellen Zusatzstoffen zu locken (Functional Food).Für eine gesunde Zusammensetzung der Nahrung gibt es zahlreiche Empfehlungen, zum Beispiel den sogenannten Ernährungskreis.

Der Gebrauchswert ergibt sich zum Beispiel aus Haltbarkeit, Zeitaufwand für die Zubereitung und Preis. So soll etwa durch  vorgefertigte Nahrungsmittel – Convenience Food –  der Gebrauchswert verbessert werden, indem die Nahrungszubereitung vereinfacht wird.

Um die Qualität eines Nahrungsmittel zu beurteilen spielt außerdem seine Herstellungsweise eine wichtige Rolle. Sie hat einmal Auswirkungen auf die innere Struktur. Zum anderen sind damit ökologische und gesellschaftliche Aspekte verbunden. Dazu formulierte die Bundesverband Verbraucherzentralen (V ZB V) folgende Fragen, die sich der Konsument stellen sollte:

  • Wie wirkt sich mein Konsumverhalten auf Klima und Umweltschutz aus?
  • Wie trage ich zum Energiesparen und zur Schonung der Ressourcen bei?
  • Was ist fairer Handel?
  • Wie sind die Arbeitsbedingungen in fernen Ländern?

Früher sei es eine Kernaufgabe von Eltern und Großeltern gewesen, solches Alltagswissen an nachfolgende Generationen weiterzugeben. „Doch das funktioniert heute in der Komplexität der Märkte und der Innovationen nicht mehr“, so der VZBV. Deshalb seien die Schulen hier gefordert. Konsequent wurde im Bundesland Schleswig-Holstein das das Schulfach Verbraucherbildung eingeführt. Dies wird der Tatsache gerecht, dass der genannte Fragenkatalog Bereiche ganz verschiedener klassischer Fächer berührt.

Aber auch die Behandlung im Biologieunterricht ist zu rechtfertigen.

  • Die menschliche Ernährung ist eng verknüpft mit dem klassischen biologischen Thema des menschlichen Stoffwechsels und der Funktion der Verdauungsorgane.
  • Nahrungsmittel werden aus Pflanzen und Tieren hergestellt und dabei geht es um grundlegende biologische Sachverhalte.
  • Nahrungsmittelproduktion hinterlässt deutliche „ökologische Fußspuren“, sie hat großen Einfluss auf die Ökosysteme und den Naturhaushalt.
  • Klassische und moderne Züchtung bzw. Herstellung von Nutzpflanzen und Nutztieren fußen auf Erkenntnissen und Gesetzmäßigkeiten der Genetik und der Molekularbiologie.
  • Die Kritik der modernen Massentierhaltung und die Forderung nach artgerechter Tierhaltung beruht auf Kenntnissen des tierlichen Verhaltens

Einige Beispiele sollen zeigen, wie eine vertiefte Behandlung des Themas „Nahrungsmittelqualität“ aussehen könnte.

Chicken Wings und die industrielle Fleischproduktion

In früheren Zeiten –zu Zeiten von Max und Moritz – war Geflügel ein Festessen. Brathähnchen, wie sie zum Beispiel auf dem Cannstatter Volksfest in Stuttgart angeboten wurden, „Göckele“, waren etwas ganz besonderes. Ein halbes Hähnchen kostete allerdings in meiner Jugend noch mindestens fünfmal so viel wie eine Bratwurst und für das Geld konnte man sicher mit 10 Karussellen fahren.

Damals, in den 1950 er Jahren, wurden die Hühner bei uns noch in relativ kleinen Hühnerfarmen gehalten. Ein paar hundert Tiere waren schon viel.

Aber der Hunger nach dem leckeren Hühnerfleisch war groß, die Hühnerfarmen wurden größer und größer, die Angebote immer günstiger und aus dem seltenen Festtagsbraten wurde ein immer populäreres  und schließlich auch immer billigeres Fleischgericht („Am Sonntag bleibt die Küche kalt, wir gehen in den Wienerwald“). Heute ist ein Kilo Hähnchen manchmal kaum teurer als ein Kilo Kartoffeln und oft billiger als ein Kilo Auberginen.

Ursache dieses Preisverfalls ist die industrielle Fleischproduktion. Ihre Anfänge gehen zurück bis zu den Schlachthöfen von Chicago zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die literarisch zum Beispiel einen Niederschlag fanden in den Werken von Upton Sinclair (The Jungle) und Bert Brecht (Die heilige Johanna der Schlachthöfe). Über die gegenwärtige industrielle Fleischproduktion gibt es unzählige kritische Bücher, Berichte, Videos und Dokumentationen, zum Beispiel von PETA (People for the Ethical Treatment of Animals). In Deutschland besonders skandalbelastet sind die Schweineproduktion und die Geflügelproduktion.

Für die sechs  Hühner der Witwe Bolte, die ihr Leben bis zu Max und Moritz „lebensfroh im Sande scharrend“ verbringen konnten, bot sich nur das Braten am Stück an. Auch in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Hähnchen bzw. Hühner vor allem ganz gekauft und gegessen.

Mit zunehmender Industrialisierung der Hühnerfleischproduktion wurden nicht nur die Stückzahlen der gehaltenen Hühner immer größer, es gab auch eine immer weitergehende Spezialisierung  in

  • Zuchtbetriebe für Großeltern- und Elterntiere,
  • Vermehrungsbetriebe zur Produktion von Bruteiern,
  • Brütereien,
  • Mästereien und schließlich
  • Schlachtereien, in denen die Hühner am Fließband geschlachtet und die einzelnen Hühnerteile getrennt verarbeitet werden.

Parallel mit dieser Spezialisierung (als Folge oder als Voraussetzung?) entwickelte sich die Massentierhaltung mit immer größerem Tierbesatz und allen damit zusammenhängenden Scheußlichkeiten. Die industrielle Schlachtung und Weiterverarbeitung erlaubte eine Einzelvermarktung der verschiedenen Hühnerteile.

Zunächst gewann insbesondere die schnell, einfach und ohne Abfall zuzubereitende Hähnchenbrust an Bedeutung. Hühner wurden vor allem produziert, um Hühnerbrüste zu verkaufen, sodass die Produzenten einen Überschuss an allen anderen Hühnerteilen wie Keulen und Flügeln hatten. Entsprechend preiswert mussten diese Teile verkauft werden. Da war die „Erfindung“ der Chicken Wings als Kultgericht ein besonderer Glücksfall für die Geflügelproduzenten. 

Denn diese Hühnerteile gehören heute zu den beliebtesten Fast Food Gerichten, die man in Restaurants und Imbissbuden sehr preiswert serviert bekommt. Die handlichen Stücke lassen sich als Fingerfood verzehren und sie erfreuen sich vor allem bei Jugendlichen großer Beliebtheit. In Supermärkten werden sie in unterschiedlichen Varianten angeboten, schon vollständig vorgefertigt (Convenience Food) oder tiefgekühlt und schon fertig gewürzt  oder auch ohne Würzung zum selber  Frittieren oder Grillen.

Im Gegensatz zu vielen Gerichten der Alltagskultur haben die oft auch als „Buffalo Wings“ angebotenen Hühnerteile einen bekannten Ursprung: die Anchor Bar in Buffalo im Staat New York. Dort wurden sie erstmals am 30. Oktober 1964 serviert.

Die entscheidende Ausbreitung erfolgte in den 1990 er Jahren. Die weltweit agierenden Fast Food Ketten Pizza Hut und Domino‘s nahmen Chicken Wings in ihre Speisekarten auf. 1994 führten sie das Gericht zur American Football Saison landesweit ein. Domino‘s gab 32 Millionen US $ für Werbespots aus. Der Flügelkonsum ist seither besonders eng mit dem sogenannten Super Bowl verbunden. 2017 wurden am Super Bowl Wochenende 1,33 Milliarden Chicken Wings verzehrt.

Mittlerweile ist es deshalb so, dass die starke Nachfrage nach Hühnerflügeln ein Überangebot an anderen Teilen des Huhnes geschaffen hat. Und auch vom Flügel wird nicht alles benötigt. Die Flügelspitzen werden nach Asien, insbesondere nach China, exportiert und dort für die beliebten Geflügelsuppen verwendet.

Bei einer Qualitätsbewertung werden die Wings und die Nuggets beim Genusswert vermutlich ziemlich gut abschneiden, wegen des niedrigen Preises und der leichten Zubereitung sicherlich auch beim Gebrauchswert. Beim Gesundheitswert  ist der hohe Protein- und Fettgehalt zu beachten. Ökologie, Nachhaltigkeit, Tierschutz und Arbeitsbedingungen bei der „Produktion“ werden jedoch ein sehr schlechtes Zeugnis bekommen.

Chiasamen und andere Superfoods

Chia-Samen

Seit einigen Jahren trifft man in den Supermarktregalen immer häufiger auf einen neuen Namen: „Chia“. Es gibt Chia Müsli, Chia-Brot, Chia-Öl, Chia-Mehl oder auch ganze Packungen mit Chia-Samen.

Was steckt hinter diesem Chia?

Das Wort Chia ist aus der Sprache der ursprünglich in Kalifornien lebenden Nhuatl-Indianer abgeleitet, dort bedeutet chian so viel wie ölig . Es wird für zwei meist einjährige Salbei-Arten mit öligen Samen verwendet, die von den Indianerstämmen des heutigen Kaliforniens und Mexikos zu medizinischen Zwecken und als Speisezusatz verwendet wurden. Die nun bei uns im Handel befindlichen Samen stammen von Salvia hispanica. Der wissenschaftliche Name ist nicht ganz passend, denn dieser Salbei stammt ursprünglich aus Mexiko, weshalb er auch Mexikanischer Salbei genannt wird. Aber die Spanier brachten die Pflanze nach Europa und deshalb verwendete Linné, der die Pflanze schon kannte, das nicht ganz passende Epitheton. Die Pflanzen werden bis zu 2 m hoch. Sie blühen – ähnlich wie unser Wiesen-Salbei – blau violett. Die andere bisher als Superfood weniger genutzte Chiapflanze ist Salvia columbariae (Kalifornischer Salbei), deutlich kleiner und ziemlich xeromorph, die in den Halbwüsten Kaliforniens vorkommt.

Wie bei allen Lippenblütlern werden die Samen in Schließfrüchten gebildet. Bei der Reife zerfallen diese in vier Teilfrüchte („Klausen“), die jeweils einen Samen enthalten. Bei Mayas und Azteken genossen die Salbeisamen wegen ihrer sättigenden und gesundheitsfördernden Wirkung hohes Ansehen. Sie gaben die Samen ihren Botschafter mit – ihre sättigende Wirkung sollte ihnen helfen, lange Wegstrecken zu meistern.

Chia-Samen enthalten bis zu 38 % Öl, 18-23 % Proteine und etwa 40 % Kohlenhydrate, die zum größten Teil aus quellfälligen und unverdaulichen Polysacchariden bestehen („Ballaststoffe“). Die Konzentration von B-Vitaminen (Thiamin,Niacin, Riboflavin, Folsäure) und β-Carotin (Provitamin A) ist vergleichsweise hoch. Auch der Gehalt an Antioxidantien  (Tocopherole,Vitamin E) sowie ernährungsphysiologisch wichtigen Mineralstoffen ist beachtlich – dies gilt insbesondere für die Elemente Calcium, Kalium, Phosphor, Zink und Kupfer. Das Chia-Öl hat mit etwa 90 % einen besonders hohen Anteil an ungesättigten Fettsäuren, insbesondere der dreifach ungesättigten α-Linolensäure (55%).

http://www.apotheken-umschau.de/Ernaehrung/Chia-Samen-Wirklich-ein-Superfood-491003.html

Um besonders gesundheitsbewusste Verbraucher zu locken, lassen sich Lebensmittelindustrie und insbesondere Naturkostläden immer wieder neue Produkte einfallen. Oft handelt es sich – wie bei Chia – um exotische Naturprodukte, die traditionell in entfernten Kulturen eine wichtige Rolle gespielt haben. Zu nennen wären zum Beispiel Quinoa (Chenopodium quinoa), Urdbohnen (Vigna mungo), Goji-Beeren (Lycium barbarum, L.chinense), Acai- (Euterpe oleracea, Kohlpalme) Moringa- Pulver (Moringa oleifera, Meerretichbaum) oder Spirulina-Pulver aus Blaugrünen Bakterien („Blaualgen“). Sie werden als Neuentdeckungen angepriesen, als Superfood, unwahrscheinlich gesund. Dies rechtfertigt einen verhältnismäßig hohen Preis und entsprechend hohe Gewinnspannen. Dabei ist unbestritten, dass solche exotischen Nahrungsmittel oft der Gesundheit förderlich sind und zum Teil sogar heilende Wirkungen haben. Aufgrund der Werbung wird der gesundheitliche Wert jedoch meist überschätzt, vor allem ist es nicht unbedingt einsichtig, warum diese neuen Nahrungsmittel traditionellen Produkten deutlich überlegen wären. Der Chia-Hipe ist dafür ein gutes Beispiel.

Das Enfant terrible der Lebensmittelchemiker, Udo Pollmer, hat im Deutschlandradio Kultur einen sehr kritischen Kommentar dazu abgegeben:

„Die Wiederentdeckung verdanken wir der Futtermittelwirtschaft, die vor 15 Jahren versuchsweise Hühner mit Chia fütterte. Als die aber Eier mit kleinerem Dotter legten, schwand das Interesse. Und was macht der kluge Händler, wenn seine Ware nicht für den Futternapf taugt? Er kippt das Vogelfutter ins Müsli und annonciert es als „Superfood“. … Dort wo die Chia heimisch ist, wird sie gewöhnlich als trübes Erfrischungsgetränk mit etwas Fruchtsaft genossen, eine unbedenkliche Zubereitung. Ihre Fähigkeit Unmengen Wasser zu binden, weckte inzwischen auch die Neugier der Lebensmittelindustrie. Mit derart potenten Quellstoffen lassen sich kalorienreduzierte Produkte herstellen, aufgrund ihrer emulgierenden Eigenschaften ersetzt der Schleim in Kuchenteigen die Eier, in Speiseeis die Sahne. Es ist nicht gerade ein Superfood, aber als Superschleim können es die Samen noch weit bringen.“

Was ist nun wirklich dran an dem Wunder-Chia? Vergleicht man die Inhaltsstoffe von Chiasamen mit traditionelleren Samen wie Leinsamen oder Sonnenblumenkernen, stellt man fest,es gibt keine entscheidenden Unterschiede bis auf vielleicht die hohe Quellfähigkeit.

Tatsächlich ist diese hohe Wasserbindungskraft der Chia-Polysaccharide nicht ganz unbedenklich. Chia Samen binden die 25 fache Gewichtsmenge Wasser. Dies kann dazu führen, dass bei der Darmpassage Flüssigkeit aus dem Gewebe gezogen wird und die aufgequollene Masse den Darm blockiert. Dazu müsste man allerdings größere Mengen zu sich nehmen und vermutlich ist das auch der Grund, warum es eine Empfehlung der Europäischen Kommission gibt täglich nicht mehr als 15 g Chia-Samen zu verzehren.

Wechselwirkungen mit Gerinnungshemmern wie Warfarin/ Coumadin®, Acetylsalicylsäure/ASS/Aspirin sind möglich.

Auch der Anbau von Chia-Samen, der sich wegen des guten Verkaufs mittlerweile in den Subtropen immer weiter ausbreitet, kann kritisch gesehen werden: Das Saatgut wird mit Pflanzenhormonen behandelt, um die Keimung der Samen zu vereinheitlichen. Zudem werden reichlich Unkrautvernichtungsmittel verwendet, auch solche, die in der EU umstritten oder sogar verboten sind. Im Vergleich zu anderen Nahrungspflanzen liefern Chia-Pflanzen einen eher geringen Ertrag. Die für den Chia-Anbau genutzten Ackerflächen können aber gleichzeitig nicht für ertragreichere nährende Lebensmittel genutzt werden – das hat negative Folgen für die Menschen im Ursprungsland des Superfood.

Auf jeden Fall gibt es kostengünstigere und gleichwertige Alternativen, zum Beispiel Leinsamen und Sonnenblumenkerne.

Bei einer Bewertung wird hier vermutlich der Genusswert relativ niedrig ausfallen, der Gesundheitswert entsprechend hoch. Allerdings müssen dabei einige Fragezeichen gemacht werden. Die Kosten sind im Vergleich zu ähnlichen herkömmlichen Nahrungsmitteln hoch, weshalb man den Gebrauchswert als relativ niedrig einstufen muss. Der politische Wert (Ökologie, Nachhaltigkeit, soziale Fragen) dürfte ebenfalls eine ziemlich schlechte Bewertung bekommen.

Frei von – Nahrungsmittel

Glutenfreie Nudeln

Wir sind in der Nudelabteilung des Supermarkts. Unendlich dehnt sich das Angebot. Da kann man nicht nur unterscheiden zwischen Bandnudeln, Hörnchen, Spiralnudeln, Muscheln, Spätzle,  Spaghetti, Makkaroni, Gnocchi. Auch Teigwaren aus verschiedenen Mehlsorten wie Weizen-Weißmehl, Dinkelmehl oder Vollkornmehl, ja sogar Reismehl und Mehl aus unterschiedlichen Hülsenfrüchten werden angeboten, eine wahrhafte Nudeldiversität!

Auf einem guten Meter Regalbreite finden sich Packungen, die im Schnitt deutlich teurer sind und bei genauem Hinsehen erkennt man den Grund: da steht auf den Packungen „glutenfrei“  (GF)  auf manchen ist auch das Symbol einer durchgestrichenen Weizenähre zu sehen.

Der weniger gebildete Verbraucher fragt sich, was wohl dahinter stecken mag. Wird hier die Freiheit von einem Stoff garantiert, der in den üblichen Teigwaren enthalten ist und der Gesundheit schadet und sollte man deshalb sicherheitshalber auf solche glutenfreien Produkte zurückgreifen?

Gluten oder Klebereiweiß ist ein Sammelbegriff für ein Stoffgemisch aus Proteinen, das in den Samen einiger Getreidearten vorkommt, zum Beispiel im Weizenkorn. Wenn man einen Teig aus Weizenmehl anrührt und die Stärke und alle löslichen Bestandteile mit Salzwasser herauslöst, bleibt ein zähes Gemisch aus viel Proteinen und wenig Lipiden und Kohlenhydraten übrig, das für den Zusammenhalt des Teiges verantwortlich ist. Wegen seiner klebrigen Eigenschaft wird es auch „Kleber“ genannt. Der Proteinanteil ist das Gluten, das aus verschiedenen Glutamin- und Prolin-haltigen Proteinen zusammengesetzt ist. Es hat für die Backeigenschaften des Mehls eine zentrale Bedeutung. Nur aus Mehlen mit Gluten kann Brot in Form eines Laibs gebacken werden, da nur ein solcher Teig beim Erhitzen die notwendige Gashaltefähigkeit hat. Sie ist die Voraussetzung dafür ist, dass das Gebäck durch das Gärgas Kohlenstoffdioxid aufgehen kann.

Glutengehalt von Getreidemehlen pro 100 g Mehl in g (n.Wikipedia)

Dinkel (Typ 630) 10,3
Weizen (Typ 405) 8,66
Hafer (Vollkornmehl) 5,6
Gerste (entspelzte Körner) 5,6
Hartweizen, Emmer, Einkorn, Roggen 3,2
Teff, verschiedene Hirsen, Reis, Mais 0
Pseudogetreide Quinoa, Amaranth, Buchweizen 0

Das ist der Grund, warum man aus Mais oder Hirse kein Brot, allenfalls Fladenbrote, backen kann.

Aber was ist schlecht an Gluten? Manche Menschen vertragen bestimmte der im Gluten enthaltenen Proteine nicht. Sie entwickeln dagegen eine Immun- und in der Folge auch eine Autoimmunreaktion. Sie führt zu einer pathologischen Veränderung der Dünndarmschleimhaut und in der Folge zu einer Degradation der Darmzotten. Dadurch wird die Resorptionsfähigkeit des Dünndarms wesentlich verschlechtert, mit vielen nachteiligen Folgen. Diese als Zöliakie bekannte Krankheit soll aber in Deutschland nur relativ selten (bei 0,3% der Bevölkerung) vorkommen.

Symptome für Zöliakie

Intestinale Symptome
Motilitätsstörungen, von Durchfall bis Verstopfung
Übelkeit, Erbrechen, Blähungen, chronische Bauchschmerzen
Extraintestinale Symptome
Gewichtsverlust
Wachstumsstörungen bei Kindern
Anämie
Knochenveränderungen/Osteoporose, Zahnschmelzveränderungen
Periphere Neuropathie
Muskelschwäche
Nachtblindheit
Hämatome
Ödeme
Entzündungen der Mundschleimhaut

http://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/021-021l_S2k_Z%C3%B6liakie_05_2014_01.pdf

Das sind relativ vielseitige und zweifellos nicht nur mit der Zöliakie verbundene Symptome. Aber Zöliakie hat eine große mediale Aufmerksamkeit erfahren und die Gefahr besteht, dass der Verbraucher sich die Selbstdiagnose Zöliakie stellt und meint, es wäre sinnvoll,  nur noch glutenfreie Nahrungsmittel zu sich zu nehmen. Der Nahrungsmittelindustrie kommt diese Entwicklung entgegen. Sie sucht angesichts des Überangebotes ständig nach Nischen, wo noch Zuwächse erzielt werden können. Die „frei von“-Produkte haben sich dabei als sehr ergiebige Nischen erwiesen. Die Verbraucherzentrale Hamburg hat ausgerechnet, dass glutenfreie Nahrungsmittel im Schnitt zweieinhalb mal so viel kosten wie normale.

Wichtigster Wirkstoff bei der Zöliaki ist das Gliadin. In Zusammenwirken mit dem Humanen Leucocyten-Antigensystem (HLA) weden in den Dünndarmzotten der entspre3chend empfindlichen Menschen bestimmte T-Helfezellen aktiviert, vermehrt entzündungsauslösende Botenstoffe wie Interferon und Interleukine zu bilden. Die Folge ist schließlicch eine  schwere Beschädigung der Dünndarmzotten.

Mittlerweile konnte schon gentechnisch veränderter Weizen entwickelt werden, der die für Zöliakie relevanten Gluten-Proteine nicht enthält. Die meisten glutenfreien Mehle stammen bisher aber von glutenfreien Getreiden und Pseudogetreidearten wie Hirsemehl oder Amaranthmehl und einem Zusatz reiner Stärke oder z. B. auch Chiamehl ,  Agar, Maniokmehl oder Eiklar.

Angesichts der stürmischen Entwicklung der „frei von“ – Nahrungsmittel sollte das Thema in den Unterricht aufgenommen werden. Auch wenn die immunbiologischen Zusammenhänge vergleichsweise kompliziert sind, so ist eine didaktische Reduktion durchaus möglich,  zum Beispiel auf Basis der Dünndarmabbildungen in vielen Schulbüchern.

Exkursionen in den Supermarkt

Ein wichtiges Prinzip des Biologie-Unterrichtes ist es, unmittelbare Anschauung zu ermöglichen. Dies kann z. B. durch praktische Arbeiten der Schüler und Schü­lerinnen im Labor oder im Freiland erreicht werden. Ein mögliches Erfahrungsfeld für unmittelbare Anschaulichkeit sind aber auch Einkaufszentren wie Verbrauchermärkte, Su­permärkte usw. Dabei spielen diese Einkaufslandschaften als Aufenthaltsorte von Kindern und Jugend­lichen schon lange eine wichtige Rolle. Schon vor 30 Jahren haben wir bei etwa 400 Schülerinnen und Schülern von Flens­burger Haupt-, Real- und Gesamtschulen im Alter zwischen 9 und 16 Jahren eine Befragung durch­geführt. Das Ergebnis hat uns nicht sehr überrascht. Kauflandschaften sind Orte, an denen sich Schüler und Schülerinnen in ihrer Freizeit bedeutend länger und häufiger aufhalten, als dies zum Einkaufen nötig wäre. Das dürfte sich bis heute eher noch verstärkt haben. Kauflandschaften sind zu einem wichtigen Teil unserer Um­welt geworden und viele Menschen verbringen dort einen guten Teil ihrer Freizeit. Es bietet sich deshalb an, diesen Teil der Umwelt für die (biologische) Allge­meinbildung zu nutzen. Dies gilt nicht nur für Fragen von Ernährung und Stoffwechsel, aber diese Inhalte bieten sich natürlich für „Biologie im Supermarkt“ besonders an.

Für unsere drei Beispiele könnte ich mir folgende Aufgabenstellungen für Exkursionen in den Supermarkt vorstellen: 

Chicken Wings

Die meisten Schüler – soweit sie nicht Veganer oder Vegetarier sind – werden Chicken Wings und Chicken Nuggets ganz gerne essen. Ein Unterricht zu dem Thema könnte so aufgebaut sein, dass die Schüler sich zunächst über das Hühnerfleischangebot in einem Supermarkt informieren, dann eine begründete Aussage darüber machen, welche Hühnerfleischprodukte sie beim Kauf bevorzugen würden und schließlich mit der Produktion von Hühnerfleisch und speziell von Chicken Wings über vorgegebene Texte oder eigene Recherchen aufgeklärt werden.

  •  Bestandsaufnahme der angebotenen Formen von Hühnerfleisch
  • Preisvergleiche bezogen auf den Kilopreis von verschiedenen Hühnerfleischprodukten, Kartoffeln und Gemüsen.
  • Recherchen zu Hühnerfleischproduktion

Chia

  • Alle Produkte, die Chiasamen oder Mehl enthalten, aufspüren. Werbeaussagen auf den Packungen sammeln.
  • Inhaltsstoffe von Chiasamen nach Angaben auf den Verpackungen notieren und ihre Bedeutung für den menschlichen Organismus herausfinden (Recherche)
  • Quellvesuch mit Chiasamen
  • Suche nach anderen „Superfoods“ und Recherche nach Informationen über diese Lebensmittel
  • Vergleich von Chia-Inhaltsstoffen mit Leinsamen, Sonnenblumenkernen, Walnusskernen, Erdnüssen …

Frei von …

  • Nahrungsmittel, die mit „glutenfrei“ gekennzeichnet sind suchen und die Preise mit nicht glutenfreien aber sonst identischen Lebensmitteln vergleichen.
  • Durch Studium der Packungsaufschriften herausfinden, von welchen Pflanzen glutenfreie Mehle stammen.
  • Auf die Suche nach anderen „frei von“-Lebensmitteln gehen und den jeweiligen gesundheitlichen Hintergrund recherchieren
  • Herausfinden, ob auch Lebensmittel mit „frei von“ etikettiert werden, die den entsprechenden Stoff ohnehin nicht enthalten.

Zur Dokumentation der Recherchen können einfache Kameras (Handy) eingesetzt werden.

Weitere Themen für Exkursionen in den Supermarkt

  • Gerstengraupen, Haferflocken, Bulgur (aus welchen Bestandteilen besteht ein Getreidekorn und wie werden diese zu Nahrungsmitteln verarbeitet?)
  • Pseudogetreide (Amarant, Buchweizen, Hanf, Quinoa – wo kommen sie her, welche Vorteile könnten sie bringen?)
  • Pak Choi, Okra und andere exotische Gemüse und Salate
  • Protobiotische Nahrungsmittel und andere Functional Foods (Werbung und Wahrheit über funktionelle Zusatzstoffe ind Nahrungsmitteln)
  • Obstangebot und Nachhaltigkeit (Saisonalität, Herkunntsländer)
  • Light-Produkte (Helfen Sie wirklich beim abnehmen? Gibt es gesundheitliche Bedenken?)
  • Was bedeuten  die E-Nummern?
  • Natürlich, künstlich und naturidentisch
  • Inhaltsangaben (die Liste der Inhaltsstoffe, die auf Verpackungen von Lebensmitteln angegeben wird, ist auf der lang. Was sind das für Stoffe, was bewirken sie, könnte man auf sie verzichten?)

Literatur, Quellen

Biesiekierski, J, R. (2017): What is gluten? Journal of Gastroenterology and Hepatology, Volume 32, Issue S1 https://onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1111/jgh.13703

Brockhaus Lexikonredaktion (Hrsg.) (2001):  Der Brockhaus Ernährung – Gesund essen, bewusst leben. Leipzig/ Mannheim: Brockhaus

Foer, J.S. (2010): Tiere Essen: Köln: Kiepenheuer und Witsch

Heindl, I.(2003): Studienbuch Ernährungsbildung, Heilbrunn: Klinkhardt

Hoffmann, I./Leitzmann, C./Schneider, K. (2011): Ernährungsökologie: Komplexen Herausforderungen integrativ begegnen. München: oekom-Verlag

Leitzmann, C. (2011): Mehr als ein Ernährungsstil: Vegetarismus. Biol.Unserer Zeit 41(2), S. 124-131

Müller,T. (2018): glutenfreie Ernährung mit bitterem Nachgeschmack. Ärztezeitung. https://www.aerztezeitung.de/panorama/ernaehrung/article/958794/ernaehrung-glutenfreie-ernaehrung-bitterem-nachgeschmack.html

Pollan, M. : Das Omnivoren-Dilemma.Goldmnn/Arkaner, München 2011

Probst, W., Scharf, K.-H. (2010): Biologie im Supermarkt. 2.A., Seelze: Aulis Verlag in Friedrich Verlag

Probst, W. (Hrsg.) (2013): Küchenbiologie. Unterricht Biologie 385 (Jg. 37), Seelze: Friedrich Verlag

Rudolf, G. (2016): Chia-Samen – ein Superfood? Unterricht Biologie 415 (40. Jg.), S.18-22, Seelze: Friedrich Verlag

Wertschätzung und Verschwendung von Lebensmitteln http://www.evb-online.de/schule_materialien_wertschaetzung_uebersicht.php

Young, S. R. (2011): Gourmet lab – The scientific principles behind your favorite foods.  Arlington, Virginia (USA): NSTApress

https://de.wikipedia.org/wiki/Gluten

Gärten für die Zukunft

Vortrag anlässlich der Präsentation der Chronik über das Schulbiologiezentrum Hannover am 4. November 2012

Meine Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde des Schulbiologiezentrums Hannover,

ich freue mich, dass ich heute zu diesem festlichen Anlass, der Präsentation einer Chronik des Schulbiologiezentrum Hannover, zu ihnen sprechen darf. Herzlichen Dank, Herr Noack und Herr Reese, für die Einladung. Bei meiner Frau bedanke ich mich sehr für die Begleitung, ohne die ich diese Reise nicht hätte unternehmen können.

 Zwei besondere Gründe für meine Freude möchte ich nennen:

  • Seit ich das Schulbiologiezentrum Hannover  Ende der 1970 er Jahren kennen lernte, schätze ich diese Einrichtung sehr und die umfangreichen Publikationen von dort haben mir viele Anregungen und Impulse für meine Arbeit in Flensburg gegeben.
  • Gerhard Winkel, der in den Jahren 1961-1988 das Schulbiologiezentrum Hannover geleitet und zu seiner heutigen Form und Bedeutung gebracht hat, wurde am 29. Juni 1994 die Ehrendoktorwürde der Universität Flensburg verliehen. Nach Rudolf Karnick war er der zweite Ehrendoktor unserer Universität.

Mein Kollege und Freund Willfried Janßen sagte dazu in seiner Laudatio zu Winkels Ehrenpromotion: „Allein diese Leistung (nämlich der Aufbau des Schulbiologiezentrum) und ihre enorme Vorbildwirkung für zahlreiche im Zuge der Ökologiebewegung im Laufe der achtziger Jahre entstandenen Umweltzentren in Europa würde den Vorschlag zu Ehren Promotion rechtfertigen, da eine solche Entwicklung nicht nur mit organisatorischen Fähigkeiten und mit Energie verbunden war, sondern vor allem erfolgreich sein konnte, weil von Gerhard Winkel  … zugleich klar durchdachte pädagogische und biologiedidaktische Konzepte für dessen Wirksamkeit entwickelt wurden.“ So ist es.

 Das Schulbiologiezentrum Hannover ist aus zwei botanischen Schulgärten hervorgegangen und wie die heute vorgestellte Dokumentation beweist: Die Gartenpraxis als pädagogische Möglichkeit ist nach wie vor sein wichtigster Schwerpunkt.  Deshalb habe ich mir vorgenommen, Ihnen einige Überlegungen zum zukünftigen Umgang mit Gärten und zur Bedeutung der Gärten für die Zukunft  vorzutragen. Mir ist klar, dass dazu schon viel gesagt und geschrieben wurde –  zum Beispiel – natürlich –  von Gerhard Winkel, und erst vor kurzem, auf dem im Juni 2011 von der Deutschen Gartenbaugesellschaft und dem Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz organisierten Kongress „Zukunft Garten – Bedeutung für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft“.

Dabei gab es einen Workshop „Bildung, Erziehung, Nachwuchsarbeit im Garten“, der zu folgenden publizierten Ergebnissen kam:

  • Der (Schul-)Garten ist ein idealer Lern-und Lebensort für alle

Aufgrund dieser Aussage wird gefordert

  • Der Garten braucht gesamtgesellschaftliche Akzeptanz, die Akteure brauchen politische Unterstützung im Kontext einer Bildung für nachhaltige Entwicklung
  • Die Gartenarbeit braucht eine gute curriculare Verankerung im Bildungssystem einschließlich Lehrer- und Erzieherausbildung, Fort-  und Weiterbildung

Wer  der hier Anwesenden wollte dem widersprechen? Allein, um alle zu überzeugen, bedarf es guter Argumente. Ich hoffe, ich wiederhole nicht nur Altbekanntes, wenn ich im Folgenden einige auf meinen persönlichen Erfahrungen gründende Überlegungen dazu  anstelle, unter welchen Bedingungen Lernen im Garten tatsächlich Bildung für nachhaltige Entwicklung sein könnte.

Ich möchte dies in vier Schritten tun:

1. Weltwunder, Naturoase, Lernort – Blitzlichter zur Gartengeschichte

2. Sind Gärtner bessere Menschen?

3. Persönliche Erfahrungen – mein Weg zur Veranstaltung „Ökologischer Gartenbau“

4. Die Erde als Garten

1. Weltwunder, Naturoase, Lernort – Blitzlichter zur Gartengeschichte

 Vor 2600 Jahren in Mesopotamien

So könnten die hängenden Gärten in Babylon ausgesehen haben

So könnten die hängenden Gärten in Babylon ausgesehen haben

Das antike Babylon liegt in einem auch im Winter angenehm warmen Klima. Der strahlend blaue Himmel hat zwar den Nachteil, dass es nur wenig regnet und damit von Natur aus nur ein spärlicher Pflanzenwuchs möglich ist, doch der nahe Euphrat gepaart mit einer ausgeklügelten Bewässerungstechnik lässt nicht nur Getreidefelder sprießen sondern auch prächtig Gartenanlagen gedeihen . Schon in der Antike legendär sind die „Hängenden Gärten von Babylon“. Ihr Ruf verbreitete sich in der ganzen antiken Welt – neben dem Koloss von Rhodos, den Pyramiden von Gizeh oder dem Leuchtturm von Alexandria – gelten sie als eines der sieben Weltwunder. Zwar sind die Gärten schon im Altertum zu Grunde gegangen, doch ihr Ruf hat sich bis in die Gegenwart erhalten. Von Xenophon wurden die von Babylon übernommenen Gärten der Perser später als „Paradeisos“ beschrieben. Diese Bezeichnung geht auf das altpersische „paira  daëza“ zurück und bedeutet „umhegter Garten“. Die Gärten des Vorderen Orients – vermutlich die ursprünglichsten und ersten Gärten in der Menschheitsgeschichte – nahmen sich in wüstenhafter Umgebung die wasserreiche Oase zum Vorbild. Im Schatten von Dattelpalmen und Sykomoren kann der Müßiggänger, umgeben von säuselnden  Winden und plätschernden Bächen  einen Vorgeschmack auf das himmlische Paradies erleben. Diese Vorstellung des Gartens als Paradies, also als ein Ideal einer vollkommenen Welt, ist sicher noch älter als die Gärten der Semiramis. Oasengärten in unwirtlicher Wüstenlandschaft: Nicht nur Erinnerungen an einen paradiesischen Urzustand, sondern auch Vorahnung eines glücklichen Endzustandes, eines goldenen Zeitalters, wie es von Hesiod oder Ovid beschrieben wurde.

Griechen und v. a. Römer übernahmen Teile der orientalischen Gartenkultur, bei der Machtübernahme durch germanische Stämme ging vieles verloren, aber über die Klöster  kamen Gartenkenntnisse nach Mitteleuropa, z. B. über Winifried Strabo auf der Reichenau. Doch nun stand der Nutzgarten im Vordergrund.  Erst als in der Renaissance durch den Kontakt mit den Arabern als kulturellen Bewahrern der antiken Welt Kunst und Wissenschaften des Abendlandes neu belebt wurden, gab es eine Blüte der Gartenkultur in Europa.

Vor 300 Jahren in Versaille

Einen ersten Höhepunkt erreicht diese Gartenkultur im Barock. Dem Zeitalter des Rationalismus entsprechend ist der Barockgarten ein ganz und gar künstliches, durch den Menschen geschaffenes Gebilde. Bei der Planung wird höchster Wert auf Regelmäßigkeit und Symmetrie gelegt. Die ornamentalen, nach strengen Regeln in Formen und Strukturen gezwungenen Anlagen sind exakt durchorganisiert und stellen einen krassen Gegensatz zu wilden und chaotischen Natur dar. Sie sind Symbol für die Kraft des menschlichen Geistes und seines Erfindungsreichtums, der sich die Natur untertan machen kann (und auch machen soll), auch prunkvolle Machtdemonstration des absolutistischen Herrschers, in dessen Auftrag der Garten angelegt wurde. Oft werden diese Gärten angereichert mit exotischen Gewächsen, die aus den gerade erst entdeckten und unterworfenen Kolonien eingeführt wurden. In einem gut gepflegten Barockgarten bleibt nichts dem Zufall überlassen.

Vor 200 Jahren in Wiltshire in SW-England (Stourhead Garden)

In der Romantik wird die Gartengestaltung urwüchsiger. Der Landschaftsgarten idealisiert eine ländliche Idylle mit wohl dosierten Einsprengseln künstlich nachgebildeter wilder Natur: Waldschluchten, Wasserfälle, Grotten ja sogar kleine Felsengebirge, die noch romantischer sind als die wirkliche Natur. Anders als im Barockgarten wird von diesem Gartentyp mehr das Gemüt als der Geist angesprochen, Bilder von Landschaften, gewissermaßen Archetypen, die wir in unserem Inneren tragen. Es gibt mehrere Untersuchungen aus den 1970iger und 80iger Jahren , die von E. O. Wilson bekannt gemacht wurden und die darauf hindeuten, dass eine offene Savannenlandschaft mit guter Aussicht und der Nähe eines Gewässers aufgrund genetischer Disposition von Menschen als besonders angenehm empfunden wird. Der englische Landschaftsgarten entspricht weit gehend den Aspekten einer solchen „offenen Weidelandschaft“. Bis heute entsprechen auch die beliebtesten und teuersten Wohnlagen diesem Idealtypus. Eine mögliche Erklärung für diese angeborene Vorliebe wäre, dass in einer solchen afrikanischen Savanne die Menschenvorfahren einige Millionen Jahren lang zuhause waren (Wilson 1984).

Vor 40  Jahren im Aargau in der Schweiz

Der Begriff  „Naturgarten“  trat zwar schon Ende des 18. JH zusammen mit dem Landschaftsgarten auf, aber erst ab den 1970iger Jahren spielt er – als Idee eines privaten Naturschutzgebietes –  eine größere Rolle in der Umwelt- und Naturschutzbewegung. Während früher der paradiesische Zustand gerade die gezähmte, veränderte, mehr oder weniger stark manipulierte Natur war, ein gepflegter Hort in der Wildnis, ist nun Wildnis so selten geworden, dass der Naturgärtner versucht, in der Kulturlandschaft ein Stückchen Wildnis als sein Paradies zu erhalten (vgl. z. B. Witt 1996: Naturoase Wildgarten). Programmatisches Werk aus den 1970 er Jahren ist „Der Naturgarten“ von Urs Schwarz, in dem gefordert wird Einheimische „Unkräuter“ zu Kräutern und fremdländische Gewächse zu Unkräutern zu deklarieren und entsprechend zu behandeln.

Louis Le Roy plädiert in seinem Werk „Natur einschalten – Natur ausschalten“ dafür: „Lasst es wachsen“ . Er schlägt einen völlig neuen Umgang mit dem „Grün in der Stadt“ vor: Spontane Vegetation soll geplante Pflanzungen und Beete ersetzen, der Gartengestalter pflanzt nicht, er schafft allenfalls günstige Voraussetzungen für selbst sich entwickelnde Vielfalt : durch Bauschutthaufen, Lehmkuhlen, Kiesschüttungen, Natursteinmauern und Reisigstapel. Der avantgardistische Landschaftsarchitekt erhielt in der niederländischen Stadt Heerenveen die Möglichkeit, seine Ideen in die Tat umzusetzen. Aber nur verhältnismäßig wenige Gemeindeverwaltungen und private Gartenbesitzer folgten den radikalen Forderungen der Natur-Garten-Revolutionäre.

Dass diese Sehnsucht nach dem eigenen kleinen Naturschutzgebiet trotzdem bis heute weiter verbreitet ist, als wirklich naturnah gestaltete Gartenanlagen, kann man zum Beispiel daran erkennen, dass sehr viele Gartenbesitzer wenigstens ein Biotop (gemeint ist damit ein der ursprünglichen Natur nachempfundener Lebensraum, meist ein Teich) in ihren Garten bringen wollen. Wildtiere versuchte man schon früher in den Garten zu locken, zum Beispiel in den Schrebergarten mit Starenkästen. Heute gibt es viele Bauanleitungen und Angebote fertiger Behausungen, mit denen man nicht nur verschiedene Vogel- und Fledermausarten, Igel, Kröten, Blindschleichen oder Eidechsen , sondern auch Wirbellose wie Wildbienen, Florfliegen, Ohrkneifer und Spinnen in seinen Garten holen und dauerhaft ansiedeln kann. In Gerhard Winkels Schulgartenhandbuch wird schon 1985 beschrieben, wie man solche „Wohnräume für Tiere“ an einem Platz, einer so genannten Gartenarche, konzentrieren kann .

Fazit: Immer haben Gärten etwas mit dem Weltbild, den Sehnsüchten und Projektionen des Kulturkreises zu tun, dem sie entstammen und oft werden sie – wie auch schon die ersten Gärten in Ägypten, Babylon, Indien oder Persien – als Abbild eines glücklichen bzw. geglückten Weltplanes verstanden.

Welche Gartenkonzepte könnten in der Zukunft wichtig werden?

Welche Ziele, welche Vorstellungen, welche gesellschaftlichen Bedingungen könnten für Gartenkonzepte der Zukunft wichtig werden?

  • In unserer Gesellschaft wird der Anteil älterer Menschen immer größer – wird man deshalb bei öffentlicher und privater Gartengestaltung besonders auf Altersgerechtigkeit achten?
  • Junge Leute interessieren sich immer weniger für reine Naturlandschaften, Parkanlagen, Gartenschauen – wird öffentliches und privates Grün deshalb immer mehr mit (möglichst interaktiven) Kunstobjekten angereichert? Oder werden Gärten vermehrt Hintergrund großer Veranstaltungen (Events)?
  • Immer mehr Menschen vermissen echte Abenteuer – wird deshalb bei der Landschaftsplanung immer mehr darauf geachtet werden, Orte einzurichten, an denen solche Abenteuer möglich werden (Kletterfelsen, Baumkletterstrecken, Wildwasserbäche, Hochbrücken zum Bungee-Jumping…)?
  • Wird man – um dieser Entwicklung entgegen zu wirken – Gartenerlebnisse und Gartenarbeit vermehrt in Kindergärten und Grundschulen einführen – mit kindgerechten Gärten?

2. Sind Gärtner bessere Menschen?

Die Pädagogen hoffen natürlich, dass die Zukunft der Gärten als Bildungseinrichtungen an Bedeutung gewinnen wird, entsprechend der eingangs zitierten Aussage des Zukunft-Garten-Workshops

  • Der Garten ist ein idealer Lern-und Lebensort für alle

„Wenn Sie den Anregungen dieses Buches folgen mögen, dann wird ihr Garten zukunftsfähig, … Ihre Ernährung gesünder und sie leisten einen konstruktiven Beitrag für eine nachhaltige, zukunftsfähige Gesellschaft in der Welt“schreiben die Wuppertaler Pädagogen Gerda und Eduard Kleber  im Vorwort zu ihrem 1999 erschienenen Buch „Gärtnern im Biotop mit Mensch“, das 2011 in einer neuen Auflage erschienen ist. Die Liebe zum eigenen Garten soll die Liebe zu unserem Planeten als Folge haben und deshalb sollte jeder Mensch ein Gärtner sein, denn nur ein solcher  „kann ein eigenes Lebenskonzept gewinnen, das im Einklang mit dem Lebenssystem unseres Planeten steht „.

Das sind wahrhaft hohe Ansprüche. Sie postulieren, dass die Verbundenheit mit einem Garten und die Tätigkeit des Gärtners zu einer Lebensweise  führen, die man im heutigen Sprachgebrauch als „nachhaltig“ bezeichnen würde.

Dazu passt auch der Leitspruch der Deutschen Gartenbaugesellschaft, der in den 1980iger Jahren von ihrer langjährigen Präsidentin Gräfin Sonja Bernadotte formuliert wurde „Gärtnern  um der Natur und des Menschen Willen“.

 So könnte man den Eindruck gewinnen, dass das Gärtnern an sich schon zu „besseren“ , d. h. zukunftsfähigeren Menschen führt. Aber stimmt diese Vorstellung mit der Wirklichkeit überein? Können Gärten nicht sehr unterschiedlich betrieben und bewirtschaftet werden?

Der Augenschein spricht  dafür, dass sich solche positiven Persönlichkeitsveränderungen bei Gärtnern – es soll in Deutschland (nach der Deutschen Gartenbaugesellschaft)  davon immerhin 15 Millionen geben –  normalerweise nicht von alleine einstellen. Schaut man sich die Gärten und die darin aktiven Menschen an, so bekommt man viel mehr den Eindruck, dass das Aussehen von Gärten etwas mit der Persönlichkeit ihrer Besitzer, mit ihrem Lebensstil, ihrer Denkweise und ihren Eigenschaften zu tun hat, weniger aber, dass diese Persönlichkeit durch den Gartenbesitz oder durch das Arbeiten im Garten stark verändert wird: In vielen Gärten wird einem starken Ordnungsbedürfnis gefrönt, dem man nur durch sehr viele oft aufwendige Eingriffe und hohem Maschineneinsatz gerecht werden kann.

Viel zitiert und demonstriert, die Rasenpflege: Der Rasen im Privatgarten ist ein gutes Beispiel dafür, dass es ein wichtiges Lernziel für nachhaltige Gärtnerei sein sollte, dem Prinzip der Eingriffsminimierung zu folgen. Welcher Eingriff ist unbedingt nötig, so sollte sich der Gärtner fragen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen – und natürlich auch: Ist das angestrebte Ziel sinnvoll ? Reinhard Mey hat vor 10 Jahren im „Sylter Rasenstreit“ die Gemeinde Kampen  und seine Nachbarn nicht überzeugen können,dass weniger Rasenpflege sinnvoll wäre. Immerhin ist dabei ein auch pädagogisch einsetzbares Chanson entstanden  „… Irgendein Depp mäht irgendwo immer …“

Resümé: Es bedarf ganz bestimmter Voraussetzungen und persönlicher Erfahrungen, damit Lernen im Garten zu Bildung für Nachhaltigkeit wird – wie dies ja auch die Klebers betonen: „“Wenn Sie den Anregungen dieses Buches folgen…“

Ich möchte dazu ein bisschen von meinen eigenen Erfahrungen berichten:

3. Persönliche Erfahrungen  – mein Weg zur Veranstaltung „ökologischer Gartenbau“

Für mein ganzes Leben, für meine Entwicklung und Bildung waren Naturerlebnisse und Naturbegegnungen von entscheidender Bedeutung. Viele andere Menschen haben ähnliche Erfahrungen gemacht, einige haben darüber auch geschrieben. Edward Osborn Wilson versuchte dies mit seinem Werk  „Biophilia“ sogar evolutionsbiologisch zu begründen.

Auch wenn es schwierig ist , den Bildungswert von Naturerlebnissen quantitativ zu belegen, wird kaum jemand bestreiten, dass Naturkontakte häufig angenehme Empfindungen erzeugen, ja glücklich machen. Vieles spricht sogar dafür, dass die psychische und physische Krankheiten heilen können. Für die Entwicklung von Kreativität und Fantasie können intensive Begegnungen mit der Natur sehr förderlich sein. Dies gilt insbesondere für die normale Entwicklung von Kindern und Jugendlichen.

Die Erkenntnis, dass der unmittelbare Umgang mit der Natur bildenden Wert hat, wurde immer wieder betont: Im 18. Jahrhundert  z. B. Von Jean Jaques Rousseau, im 19. Jahrhundert z. B. von Henry David Thureau. Gerhard Trommer hat sich in jüngerer Zeit ausführlich mit der „pädagogischen Herausforderung Wildnis“ beschäftigt und die Bedeutung unberührter Natur für die Erziehung und Bildung deutlich gemacht.

Wie lässt sich diese „pädagogische Kompetenz“ der Natur erklären? Ein Grund ist sicherlich ihre Vielseitigkeit und Offenheit, gleichzeitig ihre Unergründlichkeit, die nicht nur eine Definition sehr schwer macht, sondern aus jeder Erklärung wieder neue Rätsel entstehen lässt. In Gegensatzpaaren wird vielleicht deutlicher, was ich meine:

  • Der äußeren Natur steht die innere Natur des Menschen gegenüber.
  • Allgemeingültige Naturgesetze bestimmen den Kosmos. Gleichzeitig ist die Natur chaotisch, unvorhersehbar, einem unumkehrbaren Zeitablauf unterworfen . . .
  • Der viel beschriebenen und empfundenen Einheit der Natur steht ihre sprichwörtliche Vielfalt gegenüber

Diese spannungsreichen Polaritäten, diese Vielseitigkeit, die Offenheit zulässt, ist der große Vorzug einer Erziehung oder Bildung durch die Natur.

Bei der Didaktik der Erziehung oder Bildung durch die Natur geht es vor allem darum, gute Gelegenheiten zu schaffen, Begegnungen und Erlebnisse zu ermöglichen.

Solche Überlegungen war der Grund dafür, bei meinem Unterricht zukünftigen Lehrerinnen und Lehrern möglichst viele Gelegenheit zu unmittelbarer Naturbegegnung zu geben. Mit Exkursionen und  „Biologie im Freien“ versuchte ich, dieses Ziel zu erreichen. Dabei waren Erlebnisse, auch Abenteuer, körperliche Anstrengung und ästhetische Erfahrungen  wichtig.

Angeregt durch das Freilandlabor Dönche in Kassel, das uns 1983 von Herrn Hedwig und Herrn Witte anlässlich einer Tagung der Sektion Fachdidaktik des VBiol vorgestellt wurde, haben wir in Flensburg auch eine solche Einrichtung geschaffen. Eine weitere Anregung kam von IPN in Kiel. Ich wurde gefragt, ob ich Interesse daran hätte ein amerikanisches Programm für Freilandbiologie an mitteleuropäische Verhältnisse anzupassen. Das Ergebnis war dann das Büchlein, das Karl Kuhn, Karl Schilke und ich 1986 veröffentlichten, gewissermaßen ein Rezeptbuch für mögliche Freilandaktivitäten. Es wird vielleicht nicht ganz den heutigen Forderungen nach selbstbestimmtem und selbstreflexivem Lernen gerecht. Aber Hauptziel war es, Lehrerinnen und Lehrern durch diese relativ genauen „Vorschriften“ die Angst vor dem Hinausgehen zu nehmen.

Aber wie kam ich zum Gartenbau?

Anfang der 1980 er Jahre gingen die Studentenzahlen unserer Hochschule stark zurück. Im Wintersemester 1984/85 hatten, wir glaube ich, nur vier Neuimmatrikulierte in der Biologie. Die Hochschule hatte Sorge um ihren Bestand und versuchte, durch neue Studiengänge, die nicht zum Lehrerberuf führten, die Studentenzahlen etwas aufzubessern. Ein solcher Studiengang, der vom damals besonders studentenarmen Fach Technik initiiert wurde, nannte sich zunächst  „Technikpädagoge im Entwicklungsdienst“ und war für Studierende aus Deutschland und aus Entwicklungsländern gedacht. Wegen dieser Internationalität wurde er später in „ARTES“ – Appropiate rural technology and extension skills – umbenannt. Die Biologie beteiligte sich mit Veranstaltungen zur Ökologie, z. B. mit einer praktisch orientierten Veranstaltung zum Gartenbau, die auch für unsere Lehramtsstudenten offen war. Mein Partner war Meinolf Hammerschmidt,  Lehrer und Gärtner, der gerade aus Afrika zurückgekommen war, wo er als Entwicklungshelfer vor allem die Anlage von kleinen, der Subsistenzwirtschaft dienenden Gärten betreut hatte. Er wurde von der Hochschule angestellt.  Der besondere Pfiff dieser Veranstaltung war, dass Studierende aus Afrika, Lateinamerika und  Indien mit unseren Lehramtsstudenten zusammen im Garten arbeiteten und über den Garten und verschiedene Projekte nachdachten. Das war für mich und meinen Unterricht eine ganz neue und spannende Erfahrung: Im Garten geht es auch um unmittelbare Naturbegegnungen, aber auch um zielgerichtete Manipulation der Natur, um Nutzung und Gestaltung, um Pflege.

 In den 1990 er Jahren wurde der Studiengang immer mehr in Richtung Energiewirtschaft und Energiebereitstellung umgestellt. Meinolf Hammerschmidt wurde nicht länger von der Hochschule beschäftigt und gründete eine Baumschule für alte Obstsorten. Da sich die Gartenbauveranstaltung mittlerweile aber großer Beliebtheit bei den Lehramtsstudenten erfreute, wurde sie von mir weitergeführt und Hammerschmidt half mir dabei als Lehrbeauftragter.

Mit  mehr oder weniger großem  Erfolg  wurden unterschiedlichste Dinge ausprobiert, wobei wir oft den Vorschlägen der Studierenden folgten (Kompostwirtschaft, Hochbeet, Frühbeet, Einsatz von Folien, Foliengewächshaus, als Sonnenfalle konzipierte  Kräuternische, ausprobieren verschiedener Bewässerungssysteme, Ansiedlung von „Nützlingen“, Erdkeller, Pilzzucht). Natürlich spielte unter Meinolfs Anleitung auch das Veredeln und Anziehen von Obstgehölzen eine wichtige Rolle.

Ich nannte die Veranstaltung „Ökologischer Gartenbau“ und es ging mir darum, parallel zu der praktischen Arbeit im Garten allgemein ökologische Inhalte aber auch Artenkenntnis zu vermitteln. Ein großer Teil der praktischen Arbeit bestand zwar im Unkraut jäten – nicht  unbedingt, weil das für mich so wichtig war, sondern weil es den Studierenden ein Bedürfnis war, ihre Beete möglichst „sauber“  zu halten. Zum Abschluss jeder praktischen Arbeitsphase gab es aber eine Besprechung, in der alle gejäteten Unkräuter ebenso wie alle zufällig mit gefundenen und dann in Gläschen oder Tüten gesammelten Tiere besprochen wurden. Denn was man gut kennt, mit dem wird man sorgfältiger und vorsichtiger umgehen. „Natur erleben und verstehen“ war die Grundlage unserer Arbeit im Garten.

Unsere Erfahrungen sind in die von 1997-2001 vom Kallmeyer Verlag herausgegebenen Hefte „Gärten zum Leben und Lernen“ eingeflossen.

 Die Rückmeldungen, die ich zu dieser Veranstaltung von Studierenden bekam, waren durchweg positiv. Einige waren richtig begeistert und ich bin sicher , sie werden auch als Lehrerin oder Lehrer versucht haben, einen Schulgarten zu etablieren. Aber ich mache mir keine Illusionen,das sind doch verhältnismäßig wenige gewesen. Ob sie durch diese Arbeit wirklich andere Menschen geworden, sind wage ich nicht zu beurteilen. Immerhin könnte ich mir vorstellen, dass sie dabei eine etwas andere Einstellung zur Gartenbewirtschaftung und auch zur Landbewirtschaftung  insgesamt bekommen haben.

Ein Beispiel: Wenn der frisch gepflanzte Salat von einer großen Zahl Spanischer Wegschnecken  sofort weggefressen wird, gibt es ganz unterschiedliche Möglichkeiten, dies zu verhindern: Man kann die Schnecken in Fallen fangen, man kann versuchen, ihnen den Zugang durch einen Schneckenzaun zu verwehren, man kann sie mit chemischen Mitteln (Schneckenkorn) bekämpfen und man kann sie absammeln. Ein Student hat auf seinem 1,5  m² großen Gartenstück in drei Wochen über 700 Schnecken abgesammelt, indem er sein Beet jeden Abend nach Sonnenuntergang aufsuchte. Die Belohnung waren gut gewachsene Pflanzen, aber war der Aufwand vertretbar? Und die nächste Frage: Was passiert mit den gesammelten Schnecken?

Angesichts solcher Erfahrungen erhält eine Diskussion über ökologischen bzw. biologischen Landbau deutlich mehr Substanz und Tiefe.

4. Die Erde als Garten

Ein Gärtner sorgt in seinem Garten für die angebauten Pflanzen, er pflegt sie so, dass sie wachsen und sich gesund entwickeln, schön blühen, eventuell auch Früchte tragen oder als Salat oder Gemüse geerntet werden können. Aus dieser pflegerischen Sorgfalt, die man bei einem liebevoll wirkenden Gärtner ebenso finden kann, wie bei einem Schäfer, dem „guten Hirten“, hat Gerhard Winkel ein pädagogisches oder didaktisches Prinzip entwickelt, das Prinzip des Pflegerischen. Winkel sieht darin eine Leitidee, die Menschen verschiedener Weltanschauungen, Ideologien und Religionen akzeptieren könnten, und die deshalb geeignet wäre – ja, man kann es ruhig so sagen – die Erde vor dem Untergang zu retten.

„Zehn Jahre lang waren mir diese Bedingungen klar, und ich suchte intensiv nach einer übergreifenden Leitidee, bis mir 1976 unter einer Eisenbahnbrücke eigentlich ohne jeden Anlass der Begriff des pflegerischen durch den Kopf schoss. … Wer überhaupt bereit war, sich auf das Problem gemeinsamen Handelns bei unterschiedlicher Weltanschauung einzulassen, konnte mit dieser Leitvorstellung etwas anfangen.“ In seinem Werk „Umwelt & Bildung“ hat sich Winkel ausführlich mit dem von ihm entwickelten „Prinzip des Pflegerischen“ auseinandergesetzt und erläutert, warum er es für ein zentrales Bildungsziel hält: „Das Pflegerische meint also immer Umfassendes, nämlich den pfleglichen Umgang mit den Pflanzen und Tieren, den Landschaften und Ökosystemen, den Rohstoffen und Vorräten, der individuellen Gesundheit, dem sozialen Zusammenleben und den Kulturgütern. Will man es mit anderen Begriffen ausdrücken, umfasst das Pflegerische die Solidarität mit allen Pflanzen, Tieren, Menschen und ihren jetzigen und zukünftigen Bedürfnissen.“

Ein Garten ist sicherlich ein gutes Modell, an dem sich das pflegerische Prinzip einüben und weiter entwickeln lässt. Aber: Ein Garten ist ein umfriedeter Raum, zunächst einmal abgeschirmt und getrennt von seiner Umgebung. In den ersten Oasengärten des Orients abgeschirmt gegen die feindliche Wüste, im Barockgarten abgeschirmt gegen die wilden Naturkräfte,  im Naturgarten abgeschirmt gegen die vom Menschen zerstörte Landschaft. Der Garten ist also eine Art Schutzgebiet, das allerdings nicht, wie die Wildnis-Naturschutzgebiete Nordamerikas, sich selbst überlassen bleibt, sondern gepflegt wird.

In unseren Naturschutzgebieten nennt man das „Biotoppflege“. Es wird beweidet, gemäht, entkusselt, auf den Stock gesetzt, aufgestaut, eventuell auch abgebrannt.

So gesehen ist der Naturschutz bei uns in Mitteleuropa in vielen Bereichen schon eine Art Gartenbau. Und das macht durchaus Sinn. In unserer reich strukturierten, langsam gewachsenen Kulturlandschaft können Pflegemaßnahmen vorindustrielle Kulturzustände erhalten und damit Arten-und Ökosystemvielfalt  fördern.Frau werden ich diese Schilderung wie viele in O wie Frau war ja immer schon so sehr an meine Oma will nun wieder in obwohl nur weil Frau und ich werde ich Ihnen nicht wie immer sie sich in+ Frau in langen Wellen der Mail mit der ich morgen mal du eine

 Der entscheidende Schritt scheint mir aber zu sein, die „Grenzen des Gartens“ aufzuheben. Der Garten, den es zu pflegen gilt, ist unser ganzer Planet. Es gibt keine Zäune mehr, außerhalb derer wir uns unserer Verantwortung entziehen können. Alle unsere Maßnahmen haben grenzenlose Auswirkungen. Die Sorgfaltspflicht endet nicht an der Grenze eines Naturgartens, eines  Naturschutzgebietes oder eines Biosphärenreservats. Die ganze Erde muss so fürsorglich betrachtet werden, wie unser Vorgarten, ja wie unser Wohnzimmer. Wir sind verantwortlich für den ganzen Bioplaneten. Hubert Markl formulierte dies bereits 1986 sehr schlüssig: „Alle Überwindung der Natur durch Kultur erhält ihren Sinn und ihre Rechtfertigung einzig und allein daraus, dass nur dies die Kultur, dass nur dies den Menschen selbst als Kulturwesen fortbestehen lässt. Der Kulturauftrag der Naturunterwerfung ist also aus sich heraus zugleich der Kulturauftrag zur Pflege der so unterworfenen Natur, genauer: zur Erhaltung ihrer Fähigkeit, Menschenkultur zu tragen und zu ertragen.“

So wie der Planet insgesamt immer mehr von menschlichem Wirken beeinflusst und verändert wird, steigt die Verantwortung des Menschen für seine Erde.

Dabei müssen ihm die beiden Eigenschaften helfen, die ihn von allen anderen Lebewesen unterscheiden, seine Intelligenz und seine Empathiefähigkeit. Erst diese Fähigkeit, sich in andere hinein versetzen zu können, nicht nur in andere Menschen, sondern auch in Tiere, vielleicht sogar in Pflanzen, lässt die Umwelt zur Mitwelt werden.

Winkel schreibt in seinem Buch „Umwelt und Bildung“(S.57): „Der Satz: Der Mensch braucht die Natur, aber die Natur braucht den Menschen nicht, ist schlicht falsch: Gerade in der jetzigen Situation unseres Planeten kann nur der Mensch gesund pflegen, was er krank gemacht hat“. Das ist insofern auch meine Meinung, als „die Natur“ den Menschen zwar nicht brauchte, bevor es ihn gab. Aber durch die besonderen Fähigkeiten dieser neuen Spezies, des Menschen, haben sich die Bedingungen geändert – fast vergleichbar mit der  Situation auf der Urerde, als die ersten Lebewesen entstanden sind. Die großen Möglichkeiten, die diese Spezies befähigen, massiv in den Naturhaushalt einzugreifen und Veränderungen zu bewirken betreffen zwar nur einen vernachlässigbaren Teil der ganzen Natur, des Kosmos, aber doch den ganzen Bioplaneten Erde. Noch gibt es auf der Erde relativ ursprüngliche Natur, die von Menschen direkt wenig beeinflusst wird. Dies gilt für Reste von Urwäldern ebenso, wie für Wüstengebiete, arktische und antarktische Gebiete und einige Hochgebirgsregionen. Aber es gibt keinen Fleck auf der Erde mehr, der nicht doch zumindest indirekt von der Art Homo sapiens beeinflusst wird – sei dies  durch die allgegenwärtigen Plastikabfälle oder auch „nur“ über die durch menschliche Aktivitäten bewirkten Klimaveränderung.  Viele dieser menschlichen Einflüsse haben für den Fortbestand eines auch für Menschen günstigen Planeten nachteilige Auswirkungen. Die kausalen Zusammenhänge werden immer deutlicher. Dies bedeutet aber auch, dass man daran etwas ändern kann. Wenn wir davon ausgehen, dass wir in unseren Entscheidungen frei sind, dann haben wir die Möglichkeit, auf die Zukunft dieses Planeten willentlich Einfluss zu nehmen.

 Die letzte Veranstaltung zum ökologischen Gartenbau habe ich im Sommersemester 2004 durchgeführt. Wie würde ich die Veranstaltung heute erweitern?  Es wäre mir wie damals wichtig, dass die Studierenden eigene Ideen entwickeln und umsetzen können. Dabei würde ich versuchen, dazu anzuregen, ökologische Gesichtspunkte bei allen Maßnahmen zu berücksichtigen. Unter „ökologisch“ verstehe ich eine rationale, möglichst viele Gesichtspunkte berücksichtigende Herangehensweise. Einmal soll nach Erklärungen für  alle auftretenden Effekte , insbesondere auch bei Misserfolgen, gesucht werden. Zum anderen sollen  bei allen  Maßnahmen zukünftige Folgen abgeschätzt werden. Dabei ist ein wichtiges Prinzip die Eingriffsminimierung.

Stärker noch, als ich dies früher getan habe – würde ich darauf hinarbeiten, dass der Garten als Modell für unseren Planeten gesehen werden kann. Und ich würde versuchen, Gartenarbeit, Arbeiten im „Freilandlabor“ und Exkursionen inhaltlich stärker miteinander zu verbinden.

Seit einigen Jahren breitet sich in den Großstädten –  nicht nur in Europa sondern auf allen Kontinenten –  eine neue Art der Gartenkultur aus. Diese „Stadtgartenkultur“ – urban gardening – hat nichts mit den gepflegten Grünanlagen der Grünämter zu tun, sie nennt sich auch Guerillagärtnerei, es begann mit dem heimlichen Bepflanzen öffentlicher Plätze und Anlagen, dem Verteilen von „Samenbomben“, der Pothole- (=Schlagloch) Gärtnerei. Mittlerweile wird über „Urban Gardening“ sogar in den Tagesthemen berichtet, der Prinzessinengarten in Berlin-Kreuzberg und seine Initiatoren Robert Shaw und Marco Clausen sind international bekannt.

 Urbane Gärten erschließen Räume in der Stadt, in denen die biologische ebenso wie die soziale Vielfalt gedeiht“ schreiben die Initiatoren des Prinzessinengartens.

Ähnliche Ansätze kann man auf dem im Zentrum Berlins gelegenen Gelände des ehemaligen Flughafens Tempelhof beobachten. Ich hätte das auch für den Platz vorgeschlagen, auf dem der „Palast der Republik“ stand und auf dem jetzt das alte Stadtschloss als eine art Attrappe wieder entstehen soll (vgl. auf dieser Homepage den Artikel „Eine Pyramide für Berlin“).

  • Es gefällt mir, dass diese neuen Stadtgärten mit ihren Benutzern zusammen wachsen und weiterentwickelt werden,
  • es gefällt mir, dass auch Kinder und Jugendliche einbezogen werden,
  • es gefällt mir, dass die Gärten als Verbindungsglied und Schmelztiegel zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen genutzt werden,
  • es gefällt mir, dass diese Gärten einen starken mobilen Anteil haben, dass ihre Saaten und Pflanzkübel plötzlich an anderen Stellen der Stadt wachsen und keimen können.

Wenn ich jetzt noch einmal eine Gartenbauveranstaltung in Flensburg oder in einer anderen Stadt machen dürfte, dann würde ich versuchen, stärker in diesem Sinne zu wirken.

Kann man nicht hoffen, dass auf diesem Wege aus den sich immer weiter ausdehnenden urbanen Zentren der Erde heraus ein neues Grün entsteht, zwar keine unberührte Natur, keine Wildnis, aber doch in ihrer Spontanität und Unbestimmtheit durchaus wildnisähnliche Gärten, nicht nur ein ökologischer und ein ästhetischer Gewinn, sondern auch ein ökonomischer – gewissermaßen eine Subsistenzwirtschaft in der Großstadt, Permakultur in Londons City, Agroforestry in Manhattan, Traubenlese an rebenumrankten Wohnblockfassaden in Berlin- Marzahn?

Das Lernziel heißt: Die Erde ist unser Garten.

Die Stadt als Garten – die Gärten der Semiramis könnten ein Vorbild sein

Die Stadt als Garten – die Gärten der Semiramis könnten ein Vorbild sein

Zehn Jahre Nachhaltigkeitsstrategie

Heute vor zehn Jahren, am 17. April 2002, hat die rot-grüne Bundesregierung einen Beschluss über eine Nachhaltigkeitsstrategie gefasst, der unter der Überschrift “ Perspektiven für Deutschland – Unsere Strategie für eine nachhaltige Entwicklung“ veröffentlicht wurde und über das Internet heruntergeladen werden kann. Es geht darin um Generationengerechtigkeit, Lebensqualität, sozialen Zusammenhalt, internationaler Verantwortung und die Managementregeln, mit denen Nachhaltigkeit zu erreichen wäre.

Die Grundidee ist sehr einfach und einsichtig: Wir wollen heute so leben, dass auch noch  in Zukunft ein „gutes Leben“ möglich ist. ‚Until the next big asteroid hits us, the future of life on earth will depend much more on humanity than on anything else“  (G. C. Daily, Nature 411, 17 . Mai 2001,p.245). Damit wird sehr gut ausgedrückt, dass die Zukunft der Erde davon bestimmt wird, was die Menschheit und die einzelnen Menschen heute tun. Die Verwendung des Personalpronomens „uns“ für die Erde geht von einem globalen Zusammengehörigkeitsgefühl aus. ln den Menschen als Bestandteilen der Biosphäre wird sich die Natur „ihrer selbst bewusst“. Aus diesem Bewußtsein ergibt sich Verantwortung , und zwar eine inklusive Verantwortung, die den ganzen Planeten einschließt. Der Hinweis auf den Asteroiden lässt einen kleinen Spalt offen für Fatalismus und ein bisschen  Fatalismus ist für die Psychohygiene sehr gesund.

Die Erkenntnis, dass nachhaltiges Wirtschaften wichtig ist, stammt ursprünglich aus der Forstwirtschaft. In forstwirtschaftlichen Zusammenhang wurde der Begriff schon 1713 verwendet und zwar von dem Oberberghauptmann Hans Carl von Carlowitz (1645-1714). Er hatte Sorge, dass bei der weiteren exzessiven Nutzung von Bauholz im Bergbau in naher Zukunft der Nachschub aus den Wäldern gefährdet wäre. Noch klarer formulierte dies 1791 der Forstwissenschaftler Georg Ludwig Hartig (1764-1837) in seinen “ Anweisungen zur Holzzuchzt für Förster“, in denen er klar zum Ausdruck brachte, dass nur so viel Holz geschlagen werden darf, wie auch nachwächst (vgl. Wikipedia).

Erst im 20. Jahrhundert wurde dieses Nachhaltigkeitsprinzip von der Forstwirtschaft auch auf andere Wirtschaftsbereiche übertragen. In der Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt und Entwicklung (United Nations Conference on Environment and Development, UNCED; häufig als Erdgipfel bezeichnet vom 3.bis 14. Juni 1992 in Rio de Janeiro) wurde das Anstreben einer nachhaltigen Entwicklung als wichtigstes Ziel formuliert. Für den Juni dieses Jahres wurde mit Rio +20 ein weiteres Gipfeltreffen der Vereinten Nationen in Brasilien angesetzt, dessen Titel Konferenz der Vereinten Nationen über nachhaltige Entwicklung lautet.

 So kann man eigentlich sagen: an Bemühungen und guten Absichten fehlt es nicht, das Problem ist jedoch die Umsetzung. Im Fortschrittsbericht der Bundesregierung zum Stand der Bemühungen um Nachhaltigkeit in Deutschland kann man nachlesen, dass wirtschaftliche Veränderungen weitgehend in die richtige Richtung gelaufen sind. Schon wesentlich ungünstiger sieht es mit den angestrebten Entwicklungen im sozialen Bereich aus. Die Umweltveränderungen sind zum großen Teil in die falsche Richtung gelaufen. Das gilt für die Entwicklung der Biodiversität ebenso wie für Landschaftsverbrauch und ressourcenschonende Landwirtschaft.

Vom Bericht kaum erfasst werden die Aktivitäten Deutschlands in globaler Hinsicht. Der Klimawandel, die Veränderungen der Weltmeere, insbesondere die Überfischung und die Verschmutzung, Bodenverluste durch Erosion, Ausdehnung der Wüstengebiete und auch und die immer weitergehenden Zurückdrängung naturnaher Wald-Ökosysteme haben sich in den letzten 10 Jahren nicht „nachhaltig entwickelt“. Was vor 300 Jahren in Mitteleuropa zum ersten Mal erkannt und dann in den folgenden Jahrhunderten auch einigermaßen umgesetzt wurde, wird bis heute auf tropische Regenwälder aber auch auf Urwälder der gemäßigten Zonen – etwa in Kanada oder in Südamerika – nicht angewandt. Angesichts des großen Holzbedarfes – insbesondere der Zellstoffindustrie -, des großen Flächenbedarfes der Futtermittel- und Biomasseproduzenten und dem damit stattfindenden „landgrapping“ werden nicht nur immer mehr naturnahe Waldflächen „verbraucht“, auch die Existenzgrundlagen der indigenen Bevölkerungen verschlechtern sich kontinuierlich. Die immer weiter steigenden Energiepreise lassen auch früher unwirtschaftliche und einer nachhalltigen Entwicklung besonders abträgliche Ausbeutungsformen wie die Gewinnung von Erdöl aus Ölschiefer (z. B. in Kanada) zum Probem werden.

Weltweit hat sich in den vergangenen zehn Jahren vor allem das Verkehrsaufkommen und der damit verbundene Verbrauch von fossilen Energieträgern  gesteigert. Die dafür benötigten Autos und die Flugzeuge werden zu einem deutlichen Prozentsatz auch in Deutschland produziert. Im übrigen ist auch in Deutschland das hohe Verkehrsaufkommen ein Umweltproblem. Der derzeitig hohe Benzinpreis kann deshalb eigentlich nur begrüßt werden. Allerdings sollten die daraus resultierenden Gewinne auch sinnvoll genutzt werden (dies gilt sowohl für die staatlichen Steuereinnahmen als auch für die Gewinne der Mineralölkonzerne).

In einem Artikel zum Fortschrittsbericht zur nationalen Nachhaltigkeitsstrategie (2012) schreibt die Bundesregierung:  „Nachhaltige Mobilität bedeutet vor allen, den Verkehr so zu organisieren, dass Beschäftigung, Wohlstand und persönliche Freiheit möglich sind und dass er sicher, sauber, ressourcenschonend, effizient und klimafreundlich, leise und bezahlbar ist.“ Das klingt sehr vernünftig – allein, es ist kaum zu erkennen, dass ernsthafte Absichten bestehen, diesen schönen Worten auch Taten folgen zu lassen.

Weitere Informationen der Bundesregierung zum Nachhaltigkeitsbericht und einen Zugang zum vollständigen über 300 seitigen Bericht findet man unter folgendem Link:

http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Artikel/2012/02/2012-02-15-kabinett-fortschrittsbericht-2012.html;jsessionid=14E343D8C48FE64DD6FBBEDE0907DCAB.s1t1?nn=28588&__site=Nachhaltigkeit

Ein lesenswerter Bericht zur Wirkung der Nachhaltigkeitstrategie in Deutschland findet sich in der TAZ vom 17.4.2012.