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Der grüne Pelz

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Entstehung

Die Erde bildete sich vor etwa 4,6 Mrd. Jahren. 0,5 bis 1 Mrd. Jahre später traten die ersten Lebewesen auf und schon vor ca.3,5 Mrd. Jahren entwickelten sich die ersten Cyanobakterien, die mithilfe von Sonnenlicht aus Wasser und  Kohlenstoffdioxid Kohlenhydrate und Sauerstoff herstellen konnten. Der Sauerstoff oxidierte Mineralien und löste sich in den Ozeanen. Erst nach etwa 1 Mrd. Jahren waren diese Oxidationsprozesse abgeschlossen und der O2-Gehalt der Atmosphäre begann stark anzusteigen – mit tödlichen Folgen für obligate Anaerobier aber mit einem großen Vorteil für Lebewesen, die zur aeroben Atmung mit Sauerstoff in der Lage waren. Mit Photosynthese und Atmung war die Grundlage für effektive chemische Kreisläufe in der Biosphäre geschaffen.

Seither hat sich die Stoffproduktion durch Photosynthese stetig vermehrt, auch wenn es immer wieder kleinere oder größere Rückschritte gab. Vor etwa 400 Mio J. begann die Besiedelung des Festlandes durch grüne Pflanzen und dieser grüne Pelz überzog von Feuchtgebieten ausgehend immer größere Flächen der Kontinente. Der Pelz wurde auch immer dichter und höher. Die höchsten Bäume können über 100 m  hoch werden und die Pflanzendecke ist vielfach geschichtet. Die Pflanzen wurden durch natürliche Selektion  an immer extremere Lebensbedingungen angepasst, sodass immer trockenere und immer kältere Gebiete  einen grünen Pelz bekamen.

Beschädigungen

Waren in der früheren Erdgeschichte  vor allem  plattentektonisch bedingte Veränderungen der Kontinente, Vulkanausbrüche und Asteroideneinschläge aber auch biogene Veränderungen des CO2-Gehalts der Atmosphäre für Rückschritte bei dieser Entwicklung verantwortlich, so ist es heute die menschliche Zivilisation, durch die der grüne Pelz des Bioplaneten Erde beschädigt wird. Diese Beschädigungen haben mittlerweile ein Stadium  erreicht, das für die menschliche Zivilisation und für die derzeitigen Ökosysteme gefährlich wird. Denn angesichts der großen Populationsdichte der Menschen und des Zivilisationsgrads wird der grüne Pelz der Erde verringert und in seiner Wirksamkeit beeinträchtigt.77% der Landfläche (ohne Antarctica) und 87 % der Meere sind derzeit durch menschliche Aktivitäten verändert worden (Watson, Allen u.a.2018).

  • Städte werden immer größer, Verkehrsnetze immer dichter, Agrarflächen, die mit ihren Monokulturen eine deutlich geringere regulatorische Wirkung haben als natürliche Vegetation, dehnen sich immer weiter aus und lassen das grüne Fell der Erde räudig werden.
  • Die Kapazität des grünen Pelzes wird im Hinblick auf eine ausgeglichene Stoffbilanz des Bioplaneten Erde dadurch überschritten, dass fossile Energieträger zur Energiebereitstellung verbrannt und zur (Kunst-)Stoffproduktion genutzt werden. Besonders die starke Zunahme des Treibhausgases CO2 führt zu einer deutlichen Klimaerwärmung.
  • Der Eingriff in den Stickstoffkreislauf durch anthropogene Umwandlung des Luftstickstoffs (N2) in reaktionsfreudige Stickstoffverbindungen kann sich über verminderte Biodiversität und Veränderung der Atmosphäre (Verringerung der UV-Licht filternden Ozonschicht) negativ auswirken.

Diese Veränderungen stellen für den Bioplaneten keine existentielle Gefahr dar, das Leben auf der Erde wird diese Veränderungen ebenso überstehen, wie es andere oft noch viel drastischere Ereignisse im Laufe der Erdgeschichte überstanden hat. Für die menschliche Zivilisation in ihrer heutigen Form stellen sie aber eine existentielle Bedrohung dar. Für eine nachhaltige Entwicklung des Bioplaneten als Lebensraum für die Menschen ist der Erhalt des grünen Pelzes deshalb von entscheidender Bedeutung.

Städte

Sao Paulo,12,3 Mio Einwohner (Quelle: pixibay, joelfotos)

Mit der zunehmenden Bevölkerung werden Städte immer größer und  überdecken immer größere Flächen (Liu u.a.2020). Herkömmliche Städte sind nicht grün, sie haben Oberflächen, die vorwiegend aus Beton, Steinen, Glas und Asphalt bestehen. Die photosynthetische Stoffproduktion ist niedrig, die CO2-Produktion ist viel höher als der CO2-Verbrauch, C-Speicherug in Vegetation und Boden ist gering. Ebenso gering im Vergleich zu natürlichen Ökosystemen ist das Rückhaltevermögen für Regenwasser, sodass es bei den durch Klimawandel vermehrten Starkregen immer häufiger zu Überschwemmungen kommt. Pflanzliche Oberflächen verdunsten Wasser und produzieren Verdunstungskälte. Steine und Beton speichern Wärme. Beides führt dazu, dass  das Stadtklima wärmer ist als das Klima in der Umgebung. Dabei spielt auch eine Rolle, dass der Luftaustausch mit der Umgebung durch die Gebäude behindert wird.

Mögliche Verbesserungen:

Stichworte

Grüne Stadt: Dächer; Fassaden; Boden; Schichten: Kraut, Strauch, Baum

Blaue Stadt: Teiche; Zisternen; Überflutungsflächen; veränderte (entrohrte, mäandrierende) Fließgewässer

Vernetzung: Grünschneisen; Verbund begrünter Dachflächen

Eine Stadt mit großen Grünanlagen wie Parks und Gärten bietet zwar eine hohe Lebensqualität und eine bessere Ökobilanz. Dies geht aber insofern auf Kosten der Umgebung, als sie mehr Fläche für denselben umbauten Raum benötigt. Wenn die Umgebung aus intensiv bewirtschafteten Ackerflächen besteht, kann deren Umwandlung in gartenreiche Wohngebiete trotzdem Vorteile bieten (Reichholf 2018). Für die heutigen, von dicht stehenden Hochhäusern dominierten Großstädte ist das aber keine realistische Alternative, da die benötigten Flächen viel zu groß wären. Eine Erfolg versprechende Möglichkeit für dicht bebaute Großstädte ist die Integration von Bauwerken und Grünanlagen.

Schon lange zählt es zu Attributen ökologischer Bauweise, Dächer zu begrünen. Die Etablierung und Ausgestaltung solcher Dachgärten und Wiesen ist aber noch sehr stark ausbaufähig, wie man auf Luftbildern von Städten leicht erkennen kann. Neben der Flächenvergrößerung könnte auch die Ausgestaltung verbessert werden. Dickere Bodenschichten verbessern die Stoffbilanz, die Wasser- und Kohlenstoff-Speicherung.  Zisternensysteme können für die Bewässerung während Trockenperioden genutzt werden und den Wasserabfluss bei Starkregen mindern.

Begrünte Dachflächen könntemn durch Brücken verbunden werden.

Vernetzte Dachgärten (Entwurf W. Probst, 2020)

Auch begrünte Fassaden gibt es schon lange, aber eher an alten Bauernhäuser auf dem Land als an mehrgeschossigen Stadthäusern, Bankhochhäusern und Industrieanlagen. Für diese traditionelle  Fassadenbegrünung sind vor allem Lianen wie Efeu oder Wilder Wein (Parthenocissus) verantwortlich, die sich mit besonderen Haftorganen an den Fassaden festhalten – ein Grund dafür, dass sich viele Hausbesitzer wegen der dadurch erschwerten Fassadenrenovierung davon abhalten lassen, eine solche  Wandbegrünung zu erlauben. Auch die Furcht vor Beschädigungen durch die wuchernden, oft auch in Risse und Öffnungen eindringenden Lianen spielt dabei eine Rolle. Diese Probleme können durch vorgebaute Rankgerüste teilweise vermindert werden. Eine staatlich finanzierte Förderung der Fassadenbegrünung, wie sie ähnlich bei Fassadendämmungen sehr erfolgreich angewendet wird, könnten ein wirkungsvoller Anschub sein. Besonders wirkungsvoll könnte eine solche Förderung werden, wenn flächenhafte Begrünungsmodule zur Verfügung stünden, die mit einfachen Mitteln an Fassaden angebracht werden könnten und die durch Anschluss an eine Bewässerungsanlage wartungsarm wären. Die Elemente könnten aus einem Gerüst bestehen, an dem mehrere auswechselbare Pflanzgefäße aufgehängt werden.

Eine weitere Möglichkeit der vertikalen Begrünung, die in wenigen Beispielen schon verwirklicht ist, wäre die Ausgestaltung von Pflanzbalkonen mit Sträuchern und Bäumen. Große Gebäudekomplexe könnten durch grüne Brücken vernetzt werden. Verkehrswege, insbesondere Straßen und Schienenverkehr, könnten wie U-Bahnen unter die Oberfläche verlegt werden, wodurch Platz für bodenständige Grünanlagen aber auch Rad- und Fußwege gewonnen würde, So könnten schließlich Städte entstehen, die ganz in einem grünen Pelz eingehüllt sind und die sich fast übergangslos in die umgebende Landschaft einfügen (vgl. Jean Nouvel 2014, Stefano Boeri 2015).

Verkehrswege

Verkehrswege, insbesondere Straßen für den KFZ-Verkehr, tragen einmal durch Versiegelung zur Reduktion des grünen Pelzes bei, zum anderen  zerschneiden sie Ökosysteme, führen zur Verinselung und  darüber insbesondere zur Schädigung von Tierpopulationen und damit zur Verringerung der Biodiversität. Schließlich belasten die Abgase der Kraftfahrzeuge die Luft.

Autobahn (Quelle: pixabay: Alexas_Fotos)

Mögliche Verbesserungen:

Stichworte

  • Zerschneidungseffekte minimieren (Brücken über wertvolle Landschaftsteile, grüne Brücken zur Minderung von Zerschneidungseffekten, Tunnel),
  • Begleitgrün verbessern (Straßenränder, Randstreifen,Verkehrsinseln),
  • nicht mehr benötigte Verkehrsflächen entsiegeln,
  • Verkehrsflächen unter die Erde verlegen; nicht nur Hindernisse (Berge, Gewässer) sondern auch besonders schützenswerte Landschaften untertunneln,
  • emissionsarme Verkehrsmittel nutzen.

Je dichter die Besiedelung, desto dichter sind nicht nur Städte, Siedlungen  und Industrieanlagen, desto dichter ist auch das Netz von Verkehrswegen, insbesondere Straßen und Autobahnen (in Deutschland  derzeit nach Erhebung des Umweltbundesamt knapp 20000 km², das entspricht rund 5,5% der  Landesfläche). Das wirkt sich aber nicht nur über den Flächenverbrauch sondern vor allem über den Zerschneidungseffekt nachteilig auf die Funktion von Ökosystemen aus. Mehr noch als Pflanzenarten sind Tierpopulationen durch die dadurch bedingte Verinselung betroffen. Auch die direkte Tötung von Tieren durch den Verkehr spielt eine Rolle. Indirekt wirkt sich dies über die Bestäuber und die Verbreitung von Früchten und Samen auf die Vegetation aus.

Eine Verbesserung kann einmal durch geeignetes Straßenbegleitgrün erreicht werden (Kühne/Freier 2012). Vor allem aber kann die trennende Wirkung von Verkehrsflächen durch Brücken, sowohl Brücken über schützenswerte Landschaftsteile als auch verbindende Grünbrücken, und Tunnel erreicht werden. Schutzgräben oder Zäune können in Kombination mit kleinen Tunneln insbesondere  Amphibien bei ihren Laichwanderungen schützen (Krötenzaun, Krötentunnel).   

Eine Grünbrücke über die A50 bei Woeste Hoeve in den Niederlanden.. (Quelle: Wikipedia, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=618784)

Natürlich ist das Hauptproblem die hohe Verkehrsdichte und die Emissionen der Verkehrsmittel. Sie wird einmal durch den Individualverkehr, zum anderen durch den Güterverkehr verursacht. Beide haben in den letzten Jahrzehnten ständig zugenommen. Eine größere Verlagerung dieses Verkehrs auf die Bahn wird schon lange als Ziel formuliert, ließ sich aber bisher politisch nicht durchsetzen. Auch eine Förderung dezentraler Produktion könnte der ständigen Zunahme des Güterverkehrs entgegenwirken.                              

Landwirtschaft/Nahrungsmittelerzeugung

Moderne Landbewirtschaftung hat zwar zu immer höheren Erträgen pro genutzter Fläche geführt, die Gesamtstoffbilanz, in die man den Verbrauch von fossilen Energieträgern einrechnet, ist aber immer schlechter geworden. Nach Smil (2019) wird heute pro Ackerfläche 10x soviel produziert wie vor 100 Jahren aber dafür wird 90x soviel Energiezufuhr benötigt.

Riesige Monokulturen, Pestizid- und Düngemitteleinsatz erhöhen zwar die landwirtschaftliche Produktion, vermindern aber insgesamt die Leistungsfähigkeit des grünen Pelzes und schädigen Böden und ihre Kohlenstoff-Speicherfähigkeit. Artenarme, mit Pestiziden behandelte Agrarflächen sind die Hauptursache für den starken Rückgang der biologischen Vielfalt. Die Massentierhaltung ist nicht nur ein ökologisches sondern auch ein ethisches Problem.

Weizenfeld nach der Ernte (Quelle: pixabay: ulleo)

Mögliche Verbesserungen:

Stichworte

  • Beachtung ökologischer  Zusammenhänge (Kreislaufwirtschaft, integrierter Pflanzenschutz)
  • artgerechte Nutztierhaltung
  • Vernetzung durch Feldhecken und Randstreifen
  • Feldgehölze und andere artenreiche Biotope als ökologische Inseln
  • Agroforestry
  • Vertical Farming
  • Landwirtschaft 4.0 (KI)

Das gewichtigste Argument für eine immer stärkere Rationalisierung und Industrialisierung der Landwirtschaft ist, dass nur dieser Weg für die ständig steigenden Bedürfnisse der wachsenden Erdbevölkerung die notwendigen Nahrungsmittel und weiteren Rohstoffe liefern kann. Dieses Argument greift aber insofern nicht, als die derzeitige Landbewirtschaftung auf irreversiblem Verbrauch basiert, Verbrauch von fossilen Energieträgern, Verbrauch von Wasser, Verbrauch von nicht regenerierbaren Düngemitteln (insbesondere Phosphat, Greuling 2011), Verbrauch von Böden, Verbrauch von selbstregulierenden Ökosystemen wie z.B. Regenwäldern.

Systeme, die auf Verbrauch basieren, sind aber nur nachhaltig, das heißt, für längere Zeit funktionsfähig, wenn die verbrauchten Ressourcen ständig regeneriert werden können, Dies ist gegenwärtig eindeutig nicht der Fall. Deshalb ist eine Veränderung  vorhersehbar. Sie kann nur ohne Katastrophen stattfinden, wenn sie  basierend auf wissenschaftlichen Erkenntnissen der Ökologie vorgenommen wird.

Das kann natürlich nicht bedeuten, dass man zu Methoden des Neolithikums zurückkehrt. Eine den Produktionserfordernissen der Gegenwart genügende Landbewirtschaftung, die gleichzeitig nachhaltig ist, bedeutet nicht weniger Technik sonder mehr Technik, genauer gesagt mehr intelligente Technik.

Sehr große, von Monokulturen bestandene Flächen erlauben den Einsatz von riesigen Maschinen und  haben dazu geführt, dass mit wenigen menschlichen Arbeitskräften große Stoffmengen produziert werden können. Gleichzeitig werden dadurch aber lebenswichtige Ressourcen, Artenvielfalt, Böden, Dünger und Energie liefernde Stoffe „verbraucht“ und andere Ökosysteme durch Eintrag von Düngemitteln und Schadstoffen geschädigt.

Das Grüne Band Deutschland bezeichnet einen Geländestreifen entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze, der als arten- und biotopreicher Grüngürtel erhalten bleiben soll und der zudem wertvolle Biotope miteinander verbindet. Wenn von diesem grünen Band weitere Grüngürtel ausgehen würden, könnte es Ausgangspunkt für eine landesweite oder sogar europaweite Netzstruktur werden.

Würden die Monokulturen durch ein Netz naturnaher linearer Elemente wie Feldhecken und Wildpflanzenstreifen unterbrochen, könnte dieser Verbrauch zwar gemindert werden, gleichzeitig wäre aber eine Bewirtschaftung mit den derzeit üblichen Methoden nicht möglich oder viel aufwändiger. Mit kleineren, intelligenten Maschinen, wie sie in einfacher Form  heute schon allgemein zum Staubsaugen oder Rasenmähen eingesetzt werden, wäre das aber durchaus denkbar. Solche intelligenten, lernfähigen Roboter könnten – mit Luftbildern von Drohnen oder auch Satelliten versorgt – sehr gezielt arbeiten. Zusammen mit der  Roboter eigenen  Sensorik würde eine gezielte und damit sparsamere Unkrautvernichtung, Schädlingsbekämpfung, Düngung und Bewässerung möglich. Statt flächendeckender Düngung könnten gezielt nur solche Teilbereiche gedüngt werden, die tatsächlich unterversorgt sind. Pestizide könnten nur auf tatsächlich befallene Pflanzen  gesprüht werden, dasselbe gilt für die Bekämpfung von Unkräutern. Statt  Riesentraktoren und Megamaschinen würden dann viele kleine Roboter die Ackerflächen bearbeiten. Eine solche von künstlicher Intelligenz bestimmte Agrarwirtschaft wird auch als Landwirtschaft 4.0 bezeichnet.

Alternative, Ressourcen schonendere Formen der Landbewirtschaftung wie Mischkulturen und  Agroforestry,  spielen heute nur in Nischen und Subsistenzwirtschaften eine Rolle, da sie sehr arbeitsintensiv sind. Durch Einsatz intelligenter Technik könnten manuelle Tätigkeiten durch Roboter und Regelsysteme ersetzt und damit solche nachhaltigen Wirtschaftsformen rentabler werden.

Eine weitere zukunftsweisende Form zur Produktion von Nahrungsmitteln und anderen nachwachsenden Rohstoffen wird mit dem Begriff „Vertical Farming“  bezeichnet. Dadurch könnte der Flächenverbrauch der Produktion stark verringert werden. Schon auf der Internationalen Gartenschau in Wien 1964 wurde ein von dem Maschinenbauingenieur Othmar Ruthner konstruiertes Turmgewächshaus gezeigt. Weitere Verbreitung dieser Idee sorgte der New Yorker Professor für Umweltgesundheit und Mikrobiologie Dickson Despommier, der mit seinen Studenten ab 1999 entsprechende Ideen  zunächst für die Nahrungsmittelversorgung der 50000 Einwohner Manhattans entwickelte. Ausgangspunkt waren Überlegungen zum möglichen Gemüseanbau auf Dachflächen. In der Weiterentwicklung  wurden Hochhäuser geplant, die insgesamt der Pflanzenkultur dienen sollen. In jedem Stockwerk eines solchen  Hochhauses sollen Pflanzen auf optimale Weise automatisch gesteuert und reguliert kultiviert werden. Gleichzeitig sind diese Kulturen in  Kreislaufsysteme, insbesondere der  Wasserwiederverwendung und Abwasseraufbereitung, eingebunden (Despommier 2011).

Das Prinzip „Wachsen lassen“

Wenn  die möglichst optimale Förderung der Vegetation als wichtigstes Naturschutzziel im Sinne einer für die menschliche Zivilisation nachhaltigen Entwicklung des Bioplaneten anerkannt wird, müssen Pflanzenwachstum und Vegetationsentwicklung so gut wie möglich gefördert werden. Das bedeutet, dass man Pflanzen überall dort wachsen lässt, wo sie nicht wichtige Funktionsabläufe stören.

Die Bearbeitung von Kulturflächen ist in vielen Fällen notwendig. Wenn man eine Wiese in Mitteleuropa nie mehr mäht, wird daraus in ein, zwei Jahrzehnten ein Gebüsch und in einem Jahrhundert ein Hochwald. Einen Acker muss man regelmäßig bestellen, abernten, düngen und auch spritzen, um ernten zu können.  Aber wie sieht es mit den Rändern und den Grenzen zwischen den verschiedenen Nutzungsflächen aus? Hier besteht für den Naturschutz ein riesiges Potenzial, das für den Naturhaushalt vermutlich ergiebiger ist, als die in ihrem Flächenanteil sehr beschränkten Naturschutzgebiete. Außerdem hilft der Randschutz, verinselte naturnahe Flächen zu vernetzen. Eine vielversprechende Initiative, welche diese Idee verfolgt, ist das „Konzept der Ehda-Flächen“. Initiator und Träger dieses Projektes ist das Institut für Agrarökologie des Landes Rheinland-Platz (IfA). In den  Stadtkernen betrifft dies Parkanlagen, aufgegebene Verkehrsflächen, Brachflächen, die vorübergehend nicht bebaut sind, Randstreifen  und Verkehrsinseln, die man zeitweilig der Spontanvegetation überlassen kann. Auch die Grünflächen um öffentliche Gebäude wie Krankenhäuser, Verwaltungs- und Regierungsgebäude liefern große, bisher nicht sinnvoll genutzte Flächen.

Ein besonders großes Potenzial stellen Privatgärten dar, die meist in den Randbereichen der Städte in  Vierteln mit Einfamilien- und Reihenhäusern konzentriert sind. Hier gilt meist das Prinzip, dass nur wachsen darf , was gepflanzt wurde. „Un“kraut jäten ist deshalb  neben Rasen mähen und Hecken schneiden die häufigste Beschäftigung des Hobbygärtners. Um das Unkraut ohne zu viel manuelle Tätigkeit fern zu halten, hat sich schon vor einigen Jahrzehnten verbreitet, die Beete mit einer Schicht aus keimungs- und wachstumshemmendem Rindenmulch zu bedecken.Seit einigen Jahren wird eine noch pflanzenfeindlichere Methode, das Auskiesen von Gartenflächen, immer beliebter.

Durch solche Maßnahmen gehen sehr viele potenzielle Flächen für einen ökologisch wirkungsvollen „grünen Pelz“ verloren.

Einige Regeln, die helfen können, aus einem Garten eine ökologisch wertvolle Grünfläche zu machen:

  • Zierpflanzen, die gut gedeihen, fördern, auf solche, die schlecht wachsen oder sehr viel Pflege benötigen, verzichten,
  • auf Pestizide verzichten oder sie nur sehr gezielt bei einzelnen befallenen Pflanzen einsetzen,
  • Wildpflanzen nur entfernen, wenn sie gewünschte Zier- oder Nutzpflanzen schädigen oder verdrängen,
  • Wildpfanzen unter Hecken oder Sträuchern wachsen lassen,
  • Rasenflächen, die rein ornamentale Funktion haben, zu mageren (nicht gedüngten), höchstens zweimal im Jahr gemähten Wiesen umwandeln,
  • Abstellflächen (z.B. Autostellplätze) nicht pflastern oder asphaltieren, sondern als Schotterrasen gestalten,
  • Einfahrten mit unterbrochenen Pflastersteinen befestigen, die Bewuchs und Wasserversickerung ermöglichen,
  • abgeblühte Blütenstände und abgestorbene  Fruchtstände wenigstens teilweise stehen lassen, auch über Herbst und Winter (Überwinterungsplätze für Insekten)
  • Gartenabfälle vor Ort kompostieren,
  • aus Strauch- und Baumschnitt Reisighaufen anlegen,
  • Gartenmauern als Trockenmauern anlegen, Mauerritzen können zur schnelleren Begrünung mit passenden Pflanzen geimpft werden (Zimbelkraut, Mauerraute, Schöllkraut, Polster von Mauermoosen wie Drehzahnmoos, Kissenmoos)
  • Abwechslungsreiche Besiedelungsflächen schaffen (Sandflächen, Lehmböden, humusreiche Böden, Stein- bzw. Bauschutthaufen),
  • Regenwasser vom Dach (und versiegelten Flächen) in Zisterne sammeln und als Gießwasser (ggf. auch für Teich /Bachlauf) nutzen.
Wildwuchs an der Gartengrenze
Wildwuchs an der Gartengrenze (Großblutige Königskerze – Verbascun densiflorum)

Quellen

Blanc.P. (2009): Vertikale Gärten, Die Natur in der Stadt. Stuttgart: Ulmer

Boeri, S. (2015): A vertical Forest. Milano: Editione Mantova

Delwiche, C., F., Cooper, E., D. (2015): The evolutionary origin of terrestrial flora. Current Biology25, S. R899 – R919

Dasgupta,  P. (2020): Interim Report – The Dasgupta Review: Independent Review on the Economics of Biodiversity. Crown copyright. https://assets.publishing.service.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment_data/file/882222/The_Economics_of_Biodiversity_The_Dasgupta_Review_Interim_Report.pdf

Despommier, D. (2011): The vertical  farm: Feeding the world in the 21th century. Picador (Nachdruck der Ausgabe von 2010)

Glatron, S., Granchamp, L. (eds. , 2018) : The urban garden city. Springer

Greuling, H. (2011): Am Phosphor hängt das Schicksal der Menschheit. Die Welt bewegen. Berlin: Axel Springer SE https://www.welt.de/dieweltbewegen/article13585089/Am-Phosphor-haengt-das-Schicksal-der-Menschheit.html

Haft, J. (2.A. 2019): Die Wiese – Lockruf in eine geheimnisvolle Welt. München: Pengiun

Hendershot, J., N. u.a. (2020): Intensive farming drives long-term shifts in avian comunity composition. Nature 579, p.393-396

Kühne, S./Freier, B. (2012): Saumbiotope und ihre Bedeutung für Artenvielfalt und biologischen Pflanzenschutz. Workshop „Biological Diversity in Agricultural
Landscapes“ – February 09-10, 2012, Berlin-Dahlem

Liu, Xiaoping et al. (2020): High spatiotemporal resolution mapping of global urban change from 1985 to 2015: Nature Sustainability. DOI: 10.1038/s41893-020-0521-x

Probst, W. ,Hrsg. (2017): Saumbiotope – Grenzen und Übergänge. Unterricht Biologie 425. Seelze: Friedrich

Reichholf, J. H. (2018): Schmetterlinge: Warum sie verschwinden und was das für uns bedeutet. München: Hanser

Schilk, D. (2019): Die Wiederbegrünung der Welt. Klein Jasedow: Drachen-Verlag

Smil, V. (2019): Growth – From microorganismes to megacities. Cambridge MA.: MIT-Press

Watson, J. E. M., Allen, J. A. U:A: (2018): Protect the last of the wild. Nature 563, pp. 27-30

http://pub.jki.bund.de/index.php/JKA/article/view/2201/2585

https://umwelt.hessen.de/s/default/files/media/hmuelv/ackerrandstreifen.pdf

https://mashable.com/article/green-cities-china/?europe=true

https://www.floornature.de/jean-nouvel-und-die-gruenen-apartments-one-central-park-in-sidney-11253/

Wachsen lassen – Naturschutz an Rändern, Säumen und Kanten

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„Grün ist in unseren zivilisierten Städten nicht mehr die normale Farbe der Erdeoberfläche, die nicht nur nichts kostet, sondern sogar das einzig produktive Element aller biologischen Systeme ist – Grün ist hier vielmehr ein teures Produkt…. . Zur Zeit kostet die Planung und Ausführung einer nicht aufwändigen Grünanlage 10 bis 20 DM pro Quadratmeter und die Unterhaltung 10 % dieser Erstinvestition in jedem folgenden Jahr. Der Warencharakter der Natur hat hier ihre ökologische Qualität ausgeschaltet…“ (Peter Kramer 1977)

Lasst es wachsen!

Unsere Kulturlandschaft besteht durchgehend aus verplanten Flächen: Äcker, Wiesen, Weiden, Wälder, Wege, Gärten, Parks, Sportplätze, Wohnhäuser , Industrieanlagen, Bahnlinien und nicht zuletzt Straßen und Parkplätze. Äcker werden gedüngt, gespritzt und umgepflügt, Wiesen werden gemäht und mit Jauche vollgeschüttet, Weiden werden abgefressen, Wälder bewirtschaftet, Wege, Gärten und Parks gepflegt, das heißt der Rasen wird wöchentlich gemäht, die Hecken werden wenigstens zweimal im Jahr geschnitten, Unkraut wird gejätet und oft auch weggespritzt, Beete werden im monatlichen Turnus neu bepflanzt ….

Die Bearbeitung dieser Kulturflächen ist in vielen Fällen notwendig. Wenn man eine Wiese nie mehr mäht, wird daraus in ein, zwei Jahrzehnen ein Gebüsch und in einem Jahrhundert ein Hochwald. Einen Acker muss man regelmäßig bestellen, abernten, düngen und auch spritzen, um ernten zu können.  Aber wie sieht es mit den Rändern und den Grenzen zwischen den verschiedenen Nutzungsflächen aus? Ich meine, hier besteht für den Naturschutz ein riesiges Potenzial, das für den Naturhaushalt vermutlich ergiebiger ist, als die in ihrem Flächenanteil sehr beschränkten Naturschutzgebiete. Außerdem hilft der Randschutz, verinselte naturnahe Flächen zu vernetzen. Eine vielversprechende Initiative, welche diese Idee verfolgt, ist das „Konzept der Ehda-Flächen“. Initiator und Träger dieses Projektes ist das Institut für Agrarökologie des Landes Rheinland-Platz (IfA).

Wegrand bei Oberteuringen, 16.7.2016 (Foto Probst)

Wegrand bei Oberteuringen, 16.7.2016 (Foto Probst)

Wenn man eine Hecke nicht schneidet, wird man mit der Zeit den Weg daneben nicht mehr benutzen können. Aber wenn man den Wegrand nicht vor September  mäht, haben dort viele Kräuter und Gräser die Möglichkeit zu blühen und zu fruchten, Bienen, Hummeln, Schwebfliegen, Schmetterlinge und Käfer können sich monatelang am Nektar bedienen, Raupen, Blattwanzen, Zikaden, und Heuschrecken finden Futter und Spinnen können ihre Netze  bauen. An Zäunen muss das Unkraut nicht mit Glyphosat weggespritzt werden, Gräser und Kräuter sind meistens wesentlich schöner anzusehen als kahle Zäune. Auch Mauern werden durch hohe Kräuter an der Mauerbasis und Bewuchs der Mauerritzen schöner, die meisten Wege werden durch hochgewachsene Wegrandpflanzen nicht unbrauchbar sondern geschmückt. Die Ränder von Bürgersteigen müssen nicht wöchentlich vom Krautbewuchs befreit werden, der Bewuchs von Pflasterritzen belohnt bei zeitweiliger Duldung durch schöne Blüten. Ein großes zum Teil auch schon genutztes Potenzial ist der Wildwuchs an Gewässerrändern und Waldrändern.

Gehsteigkante mit Acker-Winde, Oberteuringen, 27.7.2016 (Foto Probst)

Gehsteigkante mit Acker-Winde, Oberteuringen, 27.7.2016 (Foto Probst)

Zwischen Radweg und Straße, Waltenweiler, 27.6.2016 (Foto Probst)

Zwischen Radweg und Straße, Waltenweiler, 27.6.2016 (Foto Probst)

Vor allem in Siedlungen und Industriegebieten gibt es immer wieder Flächen, die vorübergehend nicht genutzt werden. Solche Brachen sollte man so lange wie möglich sich selbst überlassen – wachsen lassen.

Natur ausschalten – Natur einschalten

Der niederländische Archtekt und Städteplaner Louis Guillaume le Roy (1924 – 2012) plädierte in seinem 1973 erschienenen und damals viel diskutierten Buch „Natur ausschalten – Natur Einschalten“ für eine vehemente Umkehr unsere Einstellung zu Gärten und Grünanlagen. In seiner Heimatstadt Heerenveen konnte er seine Ideen verwirklichen. Statt aufwändiger Grünanlagen schuf er hier abwechslungsreiche Brachflächen mit unterschiedlichen Materialien, insbesondere Bauschutt, und ließ es wachsen. Es entstanden bemerkenswerte vielfältige Biotope mit einem ganz besonderen ästhetischen Reiz.

Die Grundidee le Roys: Natürliche Systeme sind,  wenn man sie sich selber überlässt, erstaunlich stabil, da sie über sehr komplexe Regulationssysteme verfügen. Erst wenn man „Natur ausschaltet“ werden immer aufwändigere Pflegemaßnahmen nötig. Für die Gestaltung von Gärten und Grünanlagen aber auch für alle anderen anthropogen überformten Landschaften sollte deshalb das Prinzip der Eingriffsminimierung gelten. Eingriffe und Pflegemaßnahmen sollten nur insoweit durchgeführt werden, als dafür eine funktionale Notwendigkeit besteht.

Für die Entfernung von Krautwuchs an Zäunen zum Beispiel gibt es eindeutig keine solche funktionelle Notwendigkeit. Aber auch bei der Gestaltung von Wegrändern, Straßenrändern, Grünstreifen zwischen Radweg und Straße, Mauerbewuchs, Bewuchs von Gehsteigskanten, Plattenfugen und Grabenrändern könnte man in vielen Fällen le Roy’s Prinzip des Wachsenlassens großen Raum geben.

In dem dieses Jahr auch in deutscher Sprache erschienenen Buch von Dave Goulson, dem britischen Hummelforscher und Naturschützer „Die seltensten Bienen der Welt.: Ein Reisebericht“ findet sich im Epilog – per internet zugänglich – ein sehr lesenswertes Plädoyer für das Wachsenlassen.

https://www.amazon.de/Die-seltensten-Bienen-Welt-Reisebericht/dp/3446255036#reader_3446255036

Ein fascinierendes Projekt ist das Knepp Castle Estate Rewilding, das in einem sehenswerten Video dokumentiert wird: https://www.youtube.com/watch?v=mP3-TsRRSys

Inseln als Lebensraum

Wilfried Probst

Vortrag in der Akademie Sankelmark, 22.07.2003

Einführung

Inseln isolieren: das Wort „Isolation“ lässt sich auf das lateinische „insula“ zurückführen, heisst also eigentlich „Verinselung“.

Das mag eine „splended isolation“ sein, von der viele Bewohner der Britischen Inseln bis heute träumen oder auch eine trostlose Isolation, eine Vereinzelung, die von größeren, erstrebenswerten Gemeinschaften abschneidet, Kontakte unterbricht oder gar nicht erst aufkommen lässt. Auch solche Isolation hat es im politischen Raum immer wieder gegeben. Berlin war eine Insel des Westens im sowjetischen Einflussbereich; der Irak war (und ist) isoliert, Nord-Korea ebenso.

In den Träumen und Zielvorstellungen der Menschen spielen Inseln eine recht unterschiedliche Rolle. In der griechischen Antike träumte man von den „Inseln der Glückseeligen“, auf denen die Hesperiden die goldenen Äpfel bewachten. Atlantis ist eine Trauminsel, die bis heute durch unsere Vorstellungen geistert.  Arno Schmidt greift das Aufklärungsthema der „Gelehrtenrepublik auf und verlegt sie auf eine futuristische Insel.

Auf Inseln wird der Mensch isoliert und einzeln stehend besonders gefordert. Und er kann diese Herausforderung meistern, wie Daniel Defoe’s Robinson Crusoe zeigt. Er kann aber auch beinahe daran zugrunde gehen, wie dies William Golding in seinem Roman „Herr der Fliegen“ drastisch schildert. Ferne Inseln waren der Stützpunkt von Piraten. Sie können bis heute geheimnisvolle Schätze bergen, wie Stevensons Schatzinsel. Die ausgedachte Karte war der Ausgangspunkt für diesen erfolgreichen Abenteuerroman.

Inseln haben also für uns Menschen gewaltigen Symbolcharakter. Das arabische Schriftzeichen wird Ihnen vielleicht nichts sagen. Es bedeutet „die Insel“ und es heißt „al djasira“ – eine Insel der unverfälschten Informationen im Meer der Falschmeldungen und der Informationsunterdrückung.

Sie haben sich in den vergangenen Tagen bereits mit den vielseitigen Aspekten von Inseln beschäftigt: von der geologischen Entstehung bis zur Inselliteratur. Heute soll es um die Inseln als Lebensraum, also um die „Inselbiologie“, gehen. Themen, die wir heute ansprechen, wird man im Lexikon vielleicht noch eher als unter „Inselbiologie“ unter „Inselökologie“ oder „Inselbiogeographie“ finden.

Unterscheiden sich Inseln von anderen Lebensräumen? Und wenn ja, wie sehen diese Unterschiede aus? Worin liegen sie begründet? Und welche Auswirkungen haben sie auf das Inselleben? Vielleicht auch auf das Leben als Ganzes, auf die ganze Biosphäre. Was bedeutet „Verinselung“?

 Teil 1 Inseln Isolieren

Inseln isolieren

Seit langem weiß man, dass Inseln weniger Arten beherbergen als vergleichbar große Festlandsgebiete. Natürlich hängt die biologische Vielfalt, also die Artenzahl einer Inseln von einer Fläche ab. Dies ist sogar eine verhältnismäßig einfache Beziehung, die sich aus empirischen Daten ergibt und die als Artenzahl gegen den Logarithmus der Inselfläche aufgetragen meist eine mehr oder weniger deutliche Gerade ergibt (Abb.: Artenzahl Arealkurve der Vogelarten auf den Salomonen nach Diamond und May 1976). In arithmetischer Darstellung ergibt sich immer eine mehr oder weniger gekrümmte Kurve, deren Steigung mit zunehmender Fläche nahezu gegen Null gehen kann. Natürlich gibt es viele weitere Parameter, die für die Artenvielfalt einer Insel verantwortlich sind, z.B. die Vielfalt der Habitate (aber die ist in der Regel wiederum flächenabhängig), die  Entfernung von einem  großen Festland oder von anderen Inseln, das Alter, die geographische Breite usw.

„Insel“ bedeutet in diesem Zusammenhang übrigens nicht unbedingt eine allseits  von Wasser umgebene Landfläche – so werden Inseln in Lexika im allgemeinen definiert. Auch Seen sind Inseln in einem Meer von Land, Bergspitzen in einer Ebene, Lichtungen in einem Wald, Oasen in einer Wüste. Ebenso gibt es Inseln, die sich in geologischen Merkmalen, Bodentypus oder Vegetation von ihrer Umgebung unterscheiden. Auch Verkehrsinseln sind Inseln in einer biologisch feindlichen Straßenumgebung. Für diese Formen von Inseln ergeben sich sehr ähnliche Kurven, wenn Artenzahl und Arealgröße gegeneinander aufgetragen werden. So schreiben schon MacArthur und Edward O. Wilson 1971, dass „die inselartige Beschaffenheit ein überall anzutreffendes Merkmal der Biogeographie ist“.

Daraus wird deutlich, dass Fragen der Inselökologie oder Inselbiogeographie weit über die Bedeutung für eigentliche Inseln hinausgehen, wenn man die Verteilung und das Muster von Arten und Artengemeinschaften untersuchen will. Denn es gibt kaum natürliche Lebensgemeinschaften, die nicht zumindest einige Elemente von Inselhaftigkeit besitzen. Schon die Unterteilung der Biosphäre in verschiedene Ökosysteme zeigt ja mit dem Begriff „Ökosystem“, dass man sich die Biosphäre zusammengesetzt vorstellt aus Teilsystemen, die voneinander mehr oder weniger isoliert, und damit verinselt, sind.

Einwanderung – Auswanderung

Nach der Theorie der Habitatdiversität, die v.a. auf Lack (1934, 1942, 1969) zurück geht, ist die Artenzahl einer Insel in erster Linie von der Zahl der unterschiedlichen Lebensräume abhängig. Da diese Zahl der Lebensräume in der Regel mit der Fläche korreliert, kommt es zu den vorher erwähnten Artenzahl-Arealkurven. Zwingend ist dies jedoch nicht, habitatarme größere Inseln können artenärmer sein als habitatreiche kleinere. Da sich Lack nur mit Vogelarten beschäftigte, ist auch verständlich, dass er sich mit Zuwanderungsbarrieren weniger befasste. Nach seiner Vorstellung beruht die Abwesenheit bestimmter Populationen auf einer Insel nicht auf mangelnder Besiedelung, sondern immer auf dem Fehlen geeigneter Lebensräume.

Demgegenüber begründeten MacArthur und Edward O. Wilson 1967 die Gleichgewichtstheorie der Inselbesiedelung. Danach stellt sich – qualitativ leicht zu beschreiben – auf jeder Insel ein Gleichgewicht zwischen Einwanderungsrate und Aussterberate der Arten ein. Je mehr Arten auf einer Insel vorhanden sind, desto geringer ist die Einwanderungsrate. Entweder, da keine Arten zur Einwanderung mehr zur Verfügung stehen, oder, da es keinen Platz mehr für die neu zugekommenen Arten gibt, da also keine „Nische“ mehr für sie frei ist. Umgekehrt ist die Aussterberate umso größer, je mehr Arten auf der Insel sind. Im einfachsten Fall könnte es sich hier um eine lineare Beziehung handeln. Dann ließe sich dies in einem Raten-Artenzahldiagramm mit Geraden darstellen. Der Schnittpunkt wäre der Gleichgewichtspunkt, in dem sich der Artenreichtum im Gleichgewicht befindet. Wahrscheinlicher ist allerdings, dass es sich bei der Beziehung von Aussterberate bzw. Einwanderungsrate zu Artenzahl nicht um eine lineare Beziehung handelt, sondern eher um zwei konkave Kurven wie in der Abb. dargestellt. In jedem Fall stellt ich – steht nur genügend Zeit zur Verfügung, ein Gleichgewicht ein, eine bestimmte Artenzahl. Die Zusammensetzung der Arten, das Artenspektrum, kann sich oder muss sich allerdings weiter ändern, da ja immer Arten aussterben und Arten Einwandern, in einer Rate, die dem Gleichgewicht entspricht.

Dabei hängt der Kurvenverlauf sehr stark von der Beschaffenheit der Insel und ihrer Lage zu einem benachbarten Festland ab. Bei nahe zum Festland gelegenen Inseln ist die Einwanderungsrate zunächst sehr groß, bei weit entfernten klein. Auch die Größe der Insel spielt eine Rolle. Je größer, desto mehr Einwanderer können „aufgefangen“ werden. Dabei spielt auch die Gestalt der Insel eine Rolle.

Umgekehrt ist die Aussterberate bei großen Inseln geringer als bei kleinen, da sie viel mehr Habitate enthalten und deshalb auch Platz für mehr ökologische Nischen sprich Arten bieten.

Man kann eine Schar unterschiedlicher Kurven für Einwanderungsrate und Aussterberate in Abhängigkeit von der Artenzahl auftragen und erhält dann – je nach Kombination –  unterschiedliche Gleichgewichtswerte  (Abb.).

Obwohl dieses Modell zunächst sehr plausibel klingt, so zeigte sich doch bei der empirischen Überprüfung, dass es ausgesprochen schwierig ist, dieses Modell durch eindeutige Daten zu belegen. So lässt sich die Größenabhängigkeit der Artenzahl im Gleichgewicht auch alleine durch Habitatdiversität erklären. Und auch der Einfluss der Abgelegenheit kann vollkommen unabhängig von der Gleichgewichtstheorie betrachtet werden. Viele Arten sind nämlich in ihrer Ausbreitung so limitiert, dass sie entfernte Inseln nicht nur erschwert erreichen, sondern auch erst sehr viel später. Und dies kann dann dazu führen, dass solche isolierten Inseln weniger „gesättigt“ sind, dass sich also das von MacArthur und Wilson postulierte Gleichgewicht noch gar nicht eingestellt hat. In jedem Fall sollte man die Theorie der Habitatvielfalt, also die Aussage, dass die Vielfalt der Lebensräume für die Artenzahl auf einer Insel verantwortlich ist (Lack), und die Aussage, dass dafür das sich einstellende Gleichgewicht aus Einwanderungsrate und Aussterberate verantwortlich sind (MacArthur und Wilson) nicht als antagonistische Theorien, sondern als sich gegenseitig zu ergänzende Theorien ansehen.

Zyklen

Die beiden oben erwähnten Modelle zur Inselbesiedelung gehen von einem Endgleichgewichtszustand, auch wenn es sich bei dem Einwanderungs- Aussterbe-Modell eher um ein „Fließgleichgewicht“ handelt. Die Entwicklung strebt einem ausgeglichenen Endzustand zu. Einen solchen Zustand nennt man in der Biologie  einen Klimaxzustand. An diesem „biologischen Gleichgewicht“ verändert sich dann nichts mehr, es sei denn, es kommt durch Eingriffe von außen oder durch Katastrophen dazu, dass alles wieder von vorne anfängt. Nach der Klimaxvorstellung sind das aber Ausnahmen.

Dem steht die dynamische Auffassung von Biozönosen gegenüber, die am besten durch die Mosaik-Zyklus-Theorie beschrieben wird. Am deutlichsten wird dies bei der Untersuchung von (Ur-)Waldökosystemen. So gibt es nach Ellenberg (1978) z.B. keinen Endzustand eines natürlichen Urwalds. Vielmehr entwickeln sich nach dem Zusammenbrechen der alten Bäume Lichtungen und dort entstehen unter heftiger Konkurrenz zunächst Gesellschaften von Pionierbaumarten, die ihrerseits nach einiger Zeit wieder zusammenbrechen. Auch dann kommt es wieder zu heftiger Konkurrenz und schließlich kehren die ursprünglichen Baumarten zurück. In einem roßen Waldökosystem  laufen diese Prozesse ständig auf kleinen Flächen („patches“)  nebeneinander ab, so dass immer viele verschiedenen Entwicklungsstadien mosaikartig nebeneinander liegen. Ein besonders schönes Beispiel für diese, sich im Kreis entwickelnde Dynamik zeigt die Abfolge der Waldstadien in einer flachen Senke, die zu einem Bibersee aufgestaut wurde. Es kommt z.B. durch Blaugrüne Bakterien zu einer ganz erheblichen Stickstoffanreicherung in diesem See. Der See verlandet. Auf dem mineralstoffreichen Humosen Boden entwickelt sich zunächst eine üppige Staudenvegetation stickstoffliebender Pflanzen, dann siedeln sich erste Weichhölzer an und ganz zum Schluss kommt es zu einer Wiederbesiedelung durch die ursprünglichen Waldbaumarten.

In Wäldern können solche Zyklen Jahrhunderte, vielleicht sogar Jahrtausende dauern, in anderen Vegetationsformen noch Jahrzehnte.

Natürlich gelten diese Überlegungen auch für Inseln, auch hier sind Veränderungen und kleine Katastrophen eher die Regel as die Ausnahme. Dies müssen keine  ständigen Vulkanausbrüche sein (wie etwa auf Hawai), auch epedemieartig auftretende Krankheiten an dominierenden Baumarten etwa können ganz neue Zyklen einleiten.

„Ein sehr großer Teil der auf der Roten Liste stehenden Pflanzen- und Tierarten unserer Heimat sind an derartige Sukzessionsstadien gebunden“ (Remmert 1984).

Naturschutzmaßnehmen, die einen bestimmten Entwicklungszustand erhalten wollen, sind deshalb oft sehr aufwendig und wenig sinnvoll.

Wenn es darum geht, Biodiversität zu schützen und zu erhalten, können solche eher theoretischen Überlegungen wichtige Voraussetzungen für Planung und Eingriffsoptimierung sein.

Inselökologie und Naturschutz

1984 fand an der Akademie für Naturschutz und Landschaftspflege in Lauffen an der Salzach ein Seminar zum Thema „Inselökologie – Anwendung in der Planung des ländlichen Raumes“ statt. In diesem Seminar kommt der Tierökologe Dr. Hans-Joachim Mader zu der Schlussfolgerung: „Die Landschaften Mitteleuropas weisen eine wachsende Tendenz der Verinselung der einzelnen sie bildenden Landschaftsbestandeile auf. Die Isolationswirkung zwischen den teilweise nur noch als Fragmenten erhaltenen Resten ursprünglicher Landschaftselemente nimmt zu. Damit verliert die Landschaft auch funktional die Eigenschaft eines vielfach engmaschig verbundenen Netzes und entwickelt sich statt dessen zu einem komplex mosaikartigen Nebeneinander existierender Teilstücke.“ Ein Ergebnis dieses Seminars, das dann in der Folge starken Einfluss auf die Landschaftsplanung genommen hat, war, dass der Bedeutung von Hecken und Feldgehölzen als Barrierenabbauer und Vernetzer in diesen Inselarchipelen eine große Rolle zukommt. Weitere Schlagworte, die in der Landschaftsplanung seither eine wichtige Rolle spielen und die letztenendes auf die „Inselökologie“ zurückgehen, sind „Einrichtung von Trittsteinen“ und „Barrierenabbau“. Letzteres führte zu der sinnvollen Einrichtung von Biotopbrücken über Autobahnen (bisher leider nicht in Schleswig-Holstein!).

Einen weiteren Aspekt haben wir bei der Betrachtung der Artenvielfalt von Inseln bisher ganz unberücksichtigt gelassen: Arten sind keine unveränderlichen konstanten Einheiten. Sie verändern sich, sie können sich in neue Arten aufspalten. Damit können auf Inseln ganz neue Lebensgemeinschaften entstehen die nur sehr indirekt mit  Einwanderung und Aussterben begründet werden können. Mit diesem Aspekt wollen wir uns nach der Pause etwas intensiver beschäftigen.

Teil 2: Inseln – Quellen der Vielfalt

Inselendemiten

Ich hatte in diesem Frühjahr während  eines Aufenthalts in Honduras die Gelegenheit, die Karibikinsel Utila zu besuchen. Diese Insel – eine der sogenannten Bay-Islands – wurde lange von Seeräubern, später von freigelassenen Sklaven, bewohnt. Heute ist sie ein beliebtes Urlaubsziel vor allem für Taucher. Die Besonderheit dieser Insel ist eine schwarze Leguanart. Diese Leguan-Art mit dem wissenschaftlichen Namen Ctenosaura bakeri lebt nur auf dieser 12 km² großen Karibikinsel in küstennahen Mangrovewäldern. Das Senckenberg-Museum in Frankfurt und die Frankfurter Zoologische Gesellschaft haben sich dem Schutz dieser Echse angenommen, die angeblich nur noch in etwa 3.000 Exemplaren auf der Insel vorkommen soll. Durch ihre Initiative wurde auf Utila eine Schutzstation für Ctenosaurus bakeri eingerichtet, die gleichzeitig der gezielten Nachzucht der Leguane und der Unterrichtung einheimischer Schulklassen und Touristen in Fragen der Inselökologie und des Naturschutzes dient.

Solche Arten, die nur ein eng begrenztes Areal besiedeln, nennt man Endemiten. Endemiten sind typisch für Inseln. Endemiten der Kanarischen Inseln z.B. sind die Dickblattgewächse der Gattung Aeonium, die dort und nur dort mit über 40 Arten vorkommen, von denen viele auch noch auf einzelne Inseln beschränkt sind. Ein Kanarenendemit ist auch die rötlich blühende und als Liane wachsende Kanaren-Glockenblume (Canaria canariensis) oder der große Kanaren-Natternkopf Echium wildpretii. Bei manchen Arten – wie etwa beim Tëide-Finken –  kann man die Verwandtschaft zu weit verbreiteten Festlandsarten durchaus erkennen. Der Tëide-Fink sieht aus wie ein blaustichiges Foto eines Buchfinken (Abb.).

Besonders berühmt durch die Vielzahl ihrer Inselendemiten wurde das Galapagos-Archipel – nicht zuletzt, weil Charles Darwin diese einsame Inselgruppe auf seiner Weltreise 1834 besuchte und dort wichtige Impulse für die Entwicklung seiner Evolutionstheorie erhielt. Ihm folgten und folgen bis heute viele Biologen  und auch naturkundlich interessierte Touristen.

Galapagosendemiten, von denen immer wieder die Rede ist, sind z.B. die Erdfinken (Gattung Geospiza) , die auch „Darwinfinken“ genannt werden oder die Riesenschildkröten der Art Chelonoides elephantopus, die ebenfalls nur auf den Galapagos Inseln zu finden sind. Darwin berichtet in seinem Reisebericht „Reise eines Naturforschers um die Welt“ ausführlich von den „Elefantenschildkröten“

Unter anderem schreibt er:

Noch habe ich den allermerkwürdigsten Zug der Natur­geschichte dieses Archipels nicht erwähnt; er besteht dar­in, daß von den verschiedenen Inseln in beträchtlichem Maße jede von einer verschiedenen Gruppe von Ge­schöpfen bewohnt wird. Meine Aufmerksamkeit wurde zuerst dadurch auf diese Tatsache gelenkt, daß der Vize­Gouverneur Lawson erklärte, die Schildkröten von den verschiedenen Inseln seien untereinander verschieden, und er könne mit Sicherheit sagen, von welcher Insel irgendeine hergebracht sei. Eine Zeitlang schenkte ich dieser Angabe nicht hinreichende Aufmerksamkeit und ich hatte bereits zum Teil die Sammlungen von zwei der Inseln untereinander gemengt. Es wäre mir doch nicht im Traume eingefallen, daß ungefähr fünfzig oder sech­zig Meilen voneinander entfernt liegende Inseln, die meisten in Sichtweite voneinander, aus genau denselben Gesteinen bestehend, in einem ganz gleichartigen Klima gelegen und nahezu zu derselben Höhe sich erhebend, verschiedene Bewohner haben sollten; wir werden aber sofort sehen, daß dies der Fall ist. Es ist das Geschick der meisten Reisenden, sobald sie entdeckt haben, was an irgendeinem Ort das Interessanteste ist, eiligst fortge­trieben zu werden; ich muß aber gerade dafür dankbar sein, daß ich genügendes Material erhalten konnte, diese äußerst merkwürdige Tatsache in der Verbreitung der organischen Geschöpfe ermitteln zu können.

Irenäus von Eibl-Eibesfeldt schreibt in seinem Klassiker „Galapagos“ über diese Echsen:

Diese Elefantenschildkröten sind Überreste einer einst weit über die Erde verbreiteten Tiergruppe. Die Ordnung der Schildkröten hat sich seit dem Erdmittelalter nur wenig geän­dert. Triassochelys dux aus dem Keuper von Halberstadt hat bereits den typischen Knochenpanzer, der den Körper wie eine Kapsel umschließt. Gewaltige Landschildkröten waren vor 60 Millionen Jahren in Europa, Amerika und Indien beheima­tet. Nach einigen Überresten zu schließen, wogen manche Ex­emplare über eine Tonne. Mit dem Auftreten der wendigen Säuger, die wohl vor allem den Jungen und Eiern nachstellten­  – wie das heute auf Galaipagos die eingeschleppten Säuger tun -, verschwanden die Riesenschildkröten in den meisten Erd­gebieten. Sie hielten sich nur auf einigen ursprünglich von Säu­gern freien Inseln, nämlich auf den Maskarenen im Indischen Ozean und auf den Galapagos-Inseln. Mensch und Haustiere haben diese Bestände dezimiert. Die Maskarenen-Schildkröte konnte sich nur auf Aldabra halten

Die Fauna und Flora von Inseln ist umso eigenständiger – endemischer -, je weiter die Inseln vom nächsten Festland entfernt sind. Im übrigen gilt dies nicht nur für Inseln, sondern auch für inselartige Biotope anderer Art, z.B. für Seen. Besonders berühmt sind die endemischen Buntbarsche alter afrikanischer Seen wie etwa des Malawi-Sees oder des Tanganjika-Sees. Im Tanganjika-See wurden 214 Buntbarsch-Arten nachgewiesen, von denen 80 % nur in diesem See vorkommen. Dabei zeigen gerade die afrikanischen Seen sehr gut, dass die Zahl der Endemiten etwas zu tun hat mit dem Alter der „Insel“. Der Tanganjika-See wird auf ein Alter von 12 Millionen Jahren geschätzt. Der viel jüngere Rudolph-See dürfte erst seit 5 .000 Jahren vom Flusssystem des oberen Nils getrennt sein. In dieser Zeit konnten sich in diesem See immerhin fünf endemische Cichliden-Arten entwickeln.

Vielfalt und Evolution

Charles Darwins Weltbild wurde durch die Galapagoserfahrungen nachhaltig erschüttert. Er begann an der „Konstanz der Arten“ zu zweifeln und über die Gründe nachzudenken, die zu einer Evolution der Lebewesen beitragen könnten. Das Ergebnis war schließlich sein Epochewerk über „Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl…“ das er allerdings erst 1859, 23 Jahre nach der  Rückkehr von seiner Weltreise, veröffentlichte.

Inseln haben also bei der Entwicklung der Evolutionstheorie eine entscheidende Rolle gespielt und mit dieser Rolle wollen wir uns nun noch ein bisschen beschäftigen.

Das größte Wunder unseres Planeten ist die ungeheute Vielfalt der Lebensformen. So zahlreich sind die Arten, dass wir die meisten von ihnen noch gar nicht identifiziert haben. Die Biosphäre bedeckt die Erde mit einem Teppich aus kunstvoll miteinander gekoppelten Lebensformen. Sogar die scheinbar öde arktische Tundra beherbergt viele Tier- und Pflanzenarten einschließlich der mannigfaltigen Gruppe symbiontischer Flechten, die untereinander und mit ihrer Umwelt ein kompliziertes Netz von Wechselbeziehungen aufrecht erhalten.“

Dies sind die ersten Sätze aus dem Vorwort des von Edward O. Wilson herausgegebenen Buches „Ende der biologischen Vielfalt?“. Wie eigentlich ist diese riesige Vielfalt auf der Erde entstanden? Wie hat sich die Biosphäre entwickelt? Eine Erklärung liefert die auf Charles Darwin zurückgehende Evolutionstheorie, die unter Einbeziehung von genetischen Grundlagen zur sogenannten synthetischen Theorie weiter entwickelt wurde. Danach kann man mindestens fünf Prozesse unterscheiden, die für die Veränderung der Arten und damit für die Evolution verantwortlich sind:

1. Mutation und Rekombination

Als Mutation bezeichnet man spontan oder aufgrund bestimmter physikalischer oder chemischer Einwirkung auftretende Veränderungen im Genom. Die Wahrscheinlichkeit für solche Veränderungen ist zwar insgesamt relativ niedrig (da es zahlreiche Reparationsprozesse gibt, die für eine Stabilität der Nucleinsäuren sorgen), da Genome jedoch aus einer sehr großen Zahl von Genen bestehen, ist der Gesamtanteil der Gameten mit mutierten Genotypen hoch. Die genetische Vielfalt durch Mutationen darf nicht unterschätzt werden. Allerdings ist es so, dass die meisten Mutanten eher ungünstig sind und nur relativ wenige günstige Mutationen vorkommen, die dafür sorgen, dass Merkmale entstehen, die ihren Trägern Vorteile bringen. Mutationsraten wirken auf zweierlei Weise auf die Evolution: Sie schaffen einmal neues genetisches Material, das dann den Einwirkungen anderer Evolutionsfaktoren unterliegt und sie verändern zum anderen die Häufigkeit bestimmter Allele im Genpool der Population.

Die Wirksamkeit günstiger Mutationen wird erst durch die Rekombination genetischen Materials, also durch sexuelle Vorgänge im weitesten Sinne, wirklich wirkungsvoll in einer Population umgesetzt. Gerade die jüngsten Erkenntnisse der Genetik sprechen dafür, dass die meisten Gene unseres Genoms schon sehr alt sind und dass Vielfalt und Neuerung vor allem durch neue Kombinationen, Verdoppelungen, Umstellungen usw. zustande kommen.

2. Anpassungsselektion

Die Anpassungsselektion ist der Evolutionsfaktor, der von Darwin als der Motor für die Entstehung der Arten angesehen wurde. Anpassungsselektion heißt, dass bestimmte Individuen einer Population aufgrund ihrer besseren Tauglichkeit mehr Nachkommen haben als andere. Diese unterschiedliche Tauglichkeit oder Eignung der Phänotypen kann sich z.B. auswirken beim Nahrungserwerb, bei der Flucht vor Räubern, bei der Resistenz gegen Parasiten und Krankheitserregern, bei der Resistenz gegen verschiedene Umweltfaktoren, beim Wettbewerb um einen Geschlechtspartner und beim Brutpflegeverhalten. Anpassungsselektion sorgt dafür, dass eine Art sich an ihre Umwelt anpasst oder – anders ausgedrückt – dass sie in ihre Nische passt. Ändert sich die Umwelt, sorgt Anpassungsselektion in einem gewissen Umfang für eine Anpassung an die neuen Verhältnisse. Ist die Änderung zu drastisch, wird dies allerdings normalerweise nicht möglich und die Art wird verdrängt oder stirbt aus. Bei lange anhaltenden gleichen Umweltbedingungen können sich Arten in derselben Form über viele Jahrmillionen erhalten (stabilisierende Evolution). Solche Arten können so alt werden und von verwandten Arten so weit entfernt sein, weil diese alle ausgestorben sind, dass man von lebenden Fossilien spricht. Ein Beispiel dafür wären etwa der Ginkgo-Baum oder die Brückenechse, die nur noch auf einigen kleinen Inseln vor Nord-Neuseeland lebt.

 3. Zufallsselektion

Auch der Zufall – von Evolutionsbiologen auch Gendrift genannt – dürfte bei der Evolution eine entscheidende Rolle spielen. Wie groß der Anteil der Anpassungsselektion im Verhältnis zur Zufallsselektion ist, hängt sicher von den besonderen Bedingungen ab und ist von Fall zu Fall unterschiedlich zu beurteilen. Bis heute ist dies ein Streiitpunkt der Evolutionsforscher. Zufälle dürften auf alle Fälle eine größere Rolle spielen bei kleinen Populationen als bei großen, bei der Neubesiedelung von bisher nicht besiedelten Arealen und bei katastrophenbedingten Veränderungen.

4.Migration

Schließlich wird als weiterer Evolutionsfaktor der Genfluss oder die Migration unterschieden. Bedeutende Änderungen der Genfrequenzen können nämlich durch Abwanderung oder Zuwanderung von Individuen zu einer Population erreicht werden. Dabei unterscheidet man zwischen infraspezifischem Genfluss (dem häufigeren Fall) getrennter Populationen derselben Art und interspezifischem Genfluss (auch Bastardierung genannt). Der zweite Fall ist seltener, dürfte aber vor allem bei Pflanzen eine gewisse Rolle spielen.

5. Isolation

Während alle diese genannten Evolutionsfaktoren zunächst nur zu einer Veränderung innerhalb einer Population führen, ist die Isolation, die Verinselung, der Faktor, der zur Auftrennung der Arten und damit letzten Endes zur biologischen Vielfalt führt.

Evolutionäre Prozesse können auf Inseln wichtiger sein als Einwanderung und Auswanderung. Im Laufe der Erdgeschichte kann die Inselbildung ganz entscheidend zur biologischen Vielfalt beigetragen haben. Denn auch wenn Inseln nach langer Zeit wieder zu Festländern werden, so sind die auf ihnen durch Isolation entstandenen Arten in der Regel so stabil, dass es nicht mehr zu einer Verschmelzung kommen kann.

Ein besonders gutes und gut untersuchtes Beispiel für „Inselevolution“ sind die Fruchtfliegen des Hawai-Archipels. Geologen haben das Alter dieser Vulkaninseln bestimmt. Die älteste mit 5,1 Mill.J. ist Kauai, die jüngste mit ca.0,4 Mill.J. die große Insel Hawai mit noch mehreren aktiven Vulkanen. Auf diesen Inseln leben heute etwa 500 (!!) endemische Fruchtfliegenarten, die alle zur Gattung Drosophila gehören. Sie stammen alle von einem Vorfahr ab, der vor über 5 Mill.J. nach Kauai gelangte. In der Darstellung wird die Entstehungsgeschichte weniger Arten herausgegriffen. Die durchgezogenen Linien deuten die Migration an, die gestrichelten Linien die Anpassungsselektion auf der neuen Insel.

Wie kann man sich nun die Aufspaltung einer Stammart in viele Arten vorstellen? Dies soll an einem einfachen Modell aus drei benachbarten Inseln erläutert werden:

(1)  Eine Insel wird durch eine kleine Kolonie der Art A besiedelt. Der Genpool dieser Teilpopulation ist vom Zufall bestimmt („Zufallsselektion“)

(2)  Vom Genpool der Ausgangspopulation isoliert evolviert diese Inselpopulation in Anpassung an ihre neue Umwelt zu Art B.

(3)  Durch Stürme oder andere Umweltereignisse gelangt Art B auf eine weitere Insel

(4)   Auf dieser zweiten Insel entwickelt sich B zu C.

(5)  Individuen von C besiedeln erneut die erste Insel, können sich jedoch aufgrund genetischer Barrieren mit B nicht mehr vermischen

(6)  C besiedelt auch die dritte Insel

(7)  C bildet auf der dritten Insel Art D

(8)  Art D wird auf die beiden Inseln iherer Vorfahren verdriftet

(9)  Auf der ersten Insel bildet D die neue Art E

(10)              Usw. usw.

So können isolierte Habitate durch dieses Wechselspiel ,kleiner Populationen zu einer starken Artaufspaltung führen, die von Evolutionsbiologen „adaptive Radiation“ genannt wird.

Wie schon angedeutet, kann fehlende Konkurrenz auch zum Überdauern sehr altertümlicher Lebensformen führen. So sind Inseln nicht selten zu letzten Refugien von sehr ursprünglichen, heute isoliert stehenden Arten geworden. Viele solcher „lebenden Fossilien“ sind  vom Menschen in historischer Zeit ausgerottet worden, wie etwa die Dronten auf Mauritius und La Réunion ( ca. 1800) und  die Moas auf Neuseeland (ca. 1650).

Ein solcher noch überlebender Reliktendemit der Insel Neukaledonien östlich von Australien, die Bedecktsamige Samenpflanze Amborella trichopoda, hat in den letzten Jahren eine gewisse Berühmtheit erlangt. Auf Grund von DNA-Analysen hat man einen Stammbaum der Bedecktsamer entwickelt. Bei diesem Stammbaum steht  diese Art ganz isoliert an der Basis des Systems. Sie ist damit  die nächste noch lebende Verwandte der Ursprungsart, die vielleicht vor 150 Millionen Jahre lebte und aus der sich die ganze Vielfalt der „Blütenpflanzen“ von den Wasserlinsen bis zu den Eukalyptusbäumen, rund ¼ Million beschriebener Arten, entwickelte.

Trennung und Verbindung – zur Organisation der Biosphäre

Verinselung ist eine wesentliche Voraussetzung für Biodiversität., allerdings nur, wenn die Isolation nicht vollständig ist, wenn es ein Wechselspiel zwischen Auftrennung und Verbindung geben kann.

Ein solches Wechselspiel hat im größten Maßstab und in erdgeschichtlichen Zeiträumen stattgefunden. Im Laufe der Erdgeschichte hat sich die Verteilung der Festländer und der Ozeane ständig verändert. Als Ursache dieser „Kontinentaldrift“ wurden zyklische Vorgänge in den äußeren Schichten unseres Planeten erkannt, die man mit dem Schlagwort „Plattentektonik“ kennzeichnet. Eine Bilderfolge der letzten 200 Millionen Jahre Erdgeschichte im 50 Millionen-Jahr-Rhythmus mag dies verdeutlichen. In dieser Zeit sind die Dinosaurier aufgeblüht und wieder untergegangen, die Vögel und die Säugetiere haben sich gewaltig entwickelt, ebenso die „Blütenpflanzen“. Die heutige Verteilung der Arten und die Biodiversität so wie sie sich heute darstellt, wurde ganz entscheidend durch diese plattentektonishen Vorgänge bestimmt, die durch Trennung und Verbindung von Festländern und Meeresräumen gekennzeichnet sind.

Aber auch im kleinen und kleinsten Maßstab spielen solche Vorgänge der Isolation und der Verbindung eine wichtige Rolle. Von dem Zusammenspiel der Ökosysteme war schon die Rede, auch von der Wechselwirkung von Populationen einer Art. Innerhalb der Populationen sind es die Individuen, die voneinander klar getrennt und genetisch und morphologisch und physiologisch einzigartig doch zur Eigenart und zum Genpool der Gesamtpopulation beitragen. Und die Individuen, die Einzelorganismen? Auch sie sind zusammengesetzt aus mehr oder weniger autonomen Teilen. Wie könnte man Organe transplantieren, wenn es diese Autonomie nicht gäbe?

Selbst die kleinste Einheit des Lebens, die Zelle, stellt sich im elektronenmikroskopischen Bild als ein Kosmos aus vielen Einzelteilen, als eine Landschaft mit Inseln und Seen, man könnte auch sagen als ein dreidimensionales Labyrinth dar. Biologen sprechen von „Kompartimentierung“. Jedes Kompartiment ist eigentlich eine Insel, aber eine Insel, zu der es Fährverbindungen gibt.